Das unheimliche Knirschen im Hirschen

13.12.2016, 14:14 Uhr
· Online seit 13.12.2016, 05:34 Uhr
Die heutige Tür des Adventskalenders knarrt und quietscht, sie ist schwer und führt in ein steinernes Gebäude mit zerrissenen Tapeten, mit Löchern im Fussboden und uralten Kachelöfen. Der Gasthof Hirschen in Flawil steht seit rund zehn Jahren leer und nichts erinnert mehr daran, dass dort einst Gäste bedient wurden. Im Gegenteil.
Lara Abderhalden
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Nebelschwaden umgeben das beige Gebäude, die grün-braunen Fensterläden schaffen es gerade noch knapp, sich an den Angeln festzuhalten, ganz oben sticht ein Turm wie ein Zeigefinger in die Luft. Es scheint als flehe der verlassene Gasthof um Hilfe, um Aufmerksamkeit. Es ist gruselig. Kalt. Düster. Und der erste Blick in die grauen Mauern des Hauses verstärken das flaue Gefühl im Magen. Die Knie werden weich und am liebsten würde man sofort wieder umkehren und dieses «Gruselhaus» verlassen.

Der Boden ist aus Stein, überall hat es Türen. Hinter den Türen ist es meistens schwarz. Nur das Blitzlicht der Kamera deckt auf, was sich in den Räumen im ersten Stock verbirgt. Ganz unten muss die Küche gewesen sein. Vom Rost gerötete Herdplatten liegen dort neben alten Leitern und in Zeitung eingepackten Gegenständen, welche wir nicht wagen, auszupacken.

Unbehagen

In einem anderen Raum stapeln sich alte Türen und Fenster. Die meisten davon kaputt. Zwei grosse Sägen verstecken sich hinter einer Reihe weisser Fensterrahmen. Jedes einzelne Zimmer ist wie ein eigenes Adventskalendertürchen. Man kommt sich vor wie auf einer Geisterbahn, stets auf der Lauer, stets darauf gefasst, dass sich eine Mumie oder ein Zombie in einer Ecke versteckt.

Nur sehr widerwillig, wagt man den Gang in den zweiten Stock. Von dort hat man die Türe zur Freiheit nicht mehr im Auge. Was, wenn jemand die Türe schliesst und man für immer in diesem Gruselhaus gefangen ist? Doch die Neugierde ist grösser als die Angst. Und diese Gierde treibt einem weiter und weiter bis zum Dachstock des Gebäudes.

Noch mehr Unbehagen

Jeder Stock ist anders. Jeder Stock irgendwie einzigartig und speziell. Es gibt grün tapezierte Räume mit weissen Kachelöfen. Dann sind die Räume wieder rosarot und mit Blümchen verziert. In anderen Räumen hat es grosse, schwarze Löcher, die vermutlich von alten Heizöfen stammen. Balken liegen einmal quer dann wieder längs im Raum. Andere Holzpflöcke scheinen die Decke zu stützen. Jeder Schritt ist wie das Laufen über eine Eisfläche. Man weiss nicht, ob der nächste Schritt im freien Fall endet. Fällt dieses Haus gleich in sich zusammen?

Das Unbehagen wächst. Man beginnt schon Geräusche zu hören. Hat sich dort in der Ecke gerade etwas bewegt? War dort im Spiegel eine andere Person zu sehen? Und warte mal, warum habe ich mein eigenes Spiegelbild nicht gesehen?

Angst

Ganz oben ist nun also dieser Turm. Der Zeigefinger des Gasthofes. Die Stufen dorthin sind aus Stein, die meisten jedoch zur Hälfte abgebröckelt. Im Turm selbst ist es dunkel. So etwas ähnliches wie ein hölzernes Rad ist in der Finsternis auszumachen. Oder ist das die Folterkammer? Und was war das für ein Geräusch? Jetzt ist Schluss. Das ist genug.

Die steinernen Stufen zur Freiheit verschwinden unter den Füssen wie ein Rollband. Einfach nur noch raus, lautet das Motto! Nur noch die offene Tür vor Augen fliegt man die fünf Stockwerke herunter, stürzt sich auf den Goldgriff der Türe und lässt sich in die frische Luft fallen. Geschafft.

Noch immer hängen Nebelschwaden um den beigen Gasthof, die Fensterläden klammern sich weiterhin an den Angeln fest nur der Turm ist verschwunden. Im Nebel untergegangen. Es scheint als hätte der Gasthof erreicht, was er will. Als würde er nun, die von ihm lang ersehnte Aufmerksamkeit bekommen.

Die Geschichte des Hirschen

Der Gasthof Hirschen in Flawil wurde 1771 gebaut. Ab 1777 war er bewohnbar. Nebst zahlreichen Familien beherbergte der Gasthof einst eine Brauerei und einmal ein Tanzlokal. Zuletzt betrieben die zwei Schwestern Anna und Marie Hugentobler den Gasthof Hirschen. 2005 verstarben diese und vermachten das Haus einem Cousin, Josef Sennhauser. Dieser verkaufte den Gasthof anschliessend an Kurt Huber. Der Architekt wollte zuerst, im 2008, ein Business-Hotel mit 12-Zimmern aus dem Haus machen. Die Renovation wurde jedoch wieder und wieder verschoben. 2010 wurde die Hotelidee verworfen, die Bank machte Huber einen Strich durch die Rechnung.

Kurt Huber versuchte es mit Eigentumswohnungen und einem Gastrobetrieb im Erdgeschoss. Dadurch soll an der alten Bausubstanz möglichst wenig verändert werden. Doch auch hier blieb es nur bei der Planung. Es fehlte die Nachfrage und die finanzielle Unterstützung. Wie bei den vorherigen Projekten hätte die Sanierung rund sechs Millionen Franken gekostet.

Lange blieb es ruhig um den «Hirschen». Bis jetzt. Kurt Huber entschied sich im Frühjahr dafür, den «Hirschen» zu verkaufen. Nun gibt es, wie er mitteilt, erste Interessenten. Zwei Investorengruppen wären bereit, den Gasthof Hirschen zu kaufen und wie im Sinne von Kurt Huber, Eigentumswohnungen und einen Gastrobetrieb einzurichten. Das Ziel sei, eine Art betreutes Wohnen.

FM1Today

veröffentlicht: 13. Dezember 2016 05:34
aktualisiert: 13. Dezember 2016 14:14

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