Debakel, Beben, Malaise: Harte Worte nach dem Nein zur Steuerreform

13.02.2017, 08:40 Uhr
· Online seit 13.02.2017, 05:25 Uhr
Das deutliche Nein zur Unternehmenssteuerreform III hat nach Meinung mehrerer Kommentatoren eine tiefere Ursache in einer Art Anti-Establishment-Stimmung im Volk. Schlecht weg kommen aber auch die Abstimmungskampagne der Befürworter - und Finanzminister Ueli Maurer.
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«Nach der Steuer ist vor der AHV-Reform»

«Für die bürgerlichen Parteien ist das Nein zur Unternehmenssteuerreform III ein politisches Debakel, für Ueli Maurer ist es ein persönliches Waterloo. Nach dem Gripen-Absturz verliert er auch seine zweite kapitale Abstimmung als Bundesrat. Die Grundidee der Vorlage war clever, beim Feinschliff verlor die bürgerliche Mehrheit im Parlament aber das Augenmass. Massvoll wäre, die Steuerausfälle bei den Firmen wenigstens teilweise bei den Aktionären zu kompensieren. Der weitgehende Verzicht auf eine Gegenfinanzierung war die Erbsünde der USR III. (...) Der Entscheid ist auch ein Warnschuss im Hinblick auf die Altersvorsorge 2020, die im Herbst an die Urne kommt. Die Botschaft aus dem USR­Debakel ans Parlament lautet: Nicht noch einmal übermarchen.»

«Ausdruck eines grösseren Malaises»

«Das Ergebnis vom Sonntag steht in erster Linie für einen argen Vertrauensverlust. Es ist noch nicht lange her, da passierten Vorlagen gewöhnlich mühelos die Urne, wenn die Wirtschaft sie als so zentral erachtete wie jetzt die Unternehmenssteuerreform. Einst folgten die Stimmbürger instinktmässig, heute drücken sie im Zweifelsfall ihr Misstrauen aus. Die Wirtschaft, aber nicht weniger das gesamte bürgerliche Lager und namentlich der glücklose Bundesrat Ueli Maurer haben mit dem klaren Resultat eine böse Ohrfeige abbekommen. (...) Offensichtlich bröckelt der Glaube, dass alle Menschen von einer unternehmensfreundlichen Standortpolitik profitieren.»

«Das Nein ist Ausdruck einer Vertrauenskrise»

«‹Was für die Wirtschaft gut ist, ist gut für das Land›: Diese Gleichung wird nicht mehr als gültig angesehen. Bereits die Abzocker-Initiative (2013) und die Masseneinwanderungs-Initiative (2014) haben die Entfremdung weiter Teile der Gesellschaft von der Wirtschaft offenbart. Initiativen und Referenden von links und rechts haben auf einmal Erfolg, wohl nicht zufällig im Nachgang zur Finanzkrise mit ihren Exzessen, die das Vertrauen in ‹die da oben› auch hierzulande erschüttert haben. (...) Mehr noch als das Nein zur Steuerreform müsste der liberalen Schweiz diese zugrunde liegende Vertrauenskrise zu denken geben. Selbstkritik ist gefragt. Denn die grossen Herausforderungen, die auf unser Land zukommen - Reform der Altersvorsorge, verschärfter Standortwettbewerb, europapolitische Weichenstellungen - erfordern oft unpopuläre Massnahmen. Und diese lassen sich in einem Klima des Misstrauens nicht durchbringen.»

«Ein Votum gegen die Globalisierung»

«Im Kern ist dieses Nein, wie schon das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative, nicht nur ein Votum zu einer komplexen Vorlage. Es ging nicht, oder zumindest nicht nur, um knochentrockene Sachpolitik. Dass ein tiefbürgerliches Land wie die Schweiz eine derartige Vorlage verwirft, ist damit nicht zu erklären. Die Ursachen liegen tiefer: Dieses Nein war ein Votum gegen die Globalisierung. Systematisch ist in diesem Land das Misstrauen gegenüber internationalen Verpflichtungen sowie gegenüber einer stets globaleren Wirtschaft bewirtschaftet worden. Von rechts gegen Migranten. Und nun von links gegen internationale Wirtschaftskonzerne, diese heimatlosen Gesellen der globalen Ökonomie. Es ist damit der gleiche Nährboden bereitet worden, der in Grossbritannien den Brexit und in den USA Trump hervorgebracht hat. Das bürgerliche Milieu, der Mittelstand, einst Garanten für eine rationale Wirtschafts- und Fiskalpolitik, sind unberechenbar geworden.»

«Beerdigung erster Klasse»

«An diesem Sieg gibt es wenig zu deuteln. Die Linke triumphiert von A bis Z, sie hat eine gute Kampagne gemacht, sie hat - unüblich für die SP - sogar den Mittelstand entdeckt, vor allem hat sie ein viel besseres Gespür dafür bewiesen, wie das Volk sich fühlt, wenn Bern es mit komplizierten, schwer verständlichen Vorlagen behelligt, die nur jenen nützen sollen, die, so der Eindruck in breiten Kreisen, ohnehin viel zu viel haben. (...) Wenn eines nach dieser Abstimmung deshalb klar ist, dann das vollkommene Versagen der Economiesuisse, des Verbands der grossen Unternehmen, auch nur eine einzige Abstimmung im Sinne ihrer sehr grosszügigen Geldgeber für sich zu entscheiden. ‹Selten›, hätte ich jetzt formulieren wollen, hat die Economiesuisse eine aseptischere, hygienischere, vegetarischere Kampagne geführt: Doch stimmt das eben nicht, selten ist das schon lange nicht mehr, sondern Programm. Die Economiesuisse hat keine Ahnung mehr, wie man in der Schweiz mit Erfolg Politik betreibt.»

«Bundesrätliches Debakel»

«Die Abstimmung zur Unternehmenssteuerreform III mündete für Finanzminister Ueli Maurer und den ganzen Bundesrat in einem Debakel. 59 Prozent der Stimmbürger sagten Nein zur Reform, 22 von 26 Kantonen lehnten sie ab. Ein so deutliches Resultat hatte niemand erwartet. Obwohl auf der Seite der Befürworter 3 von 4 Bundesratsparteien, 25 von 26 Kantonsregierungen und die mächtigen Wirtschaftsdachverbände standen, gelang es den Befürwortern nicht ansatzweise, die Stimmbürger mit ihren Argumenten zu überzeugen. (...) Die Wucht und die Breite des Neins kommen überraschend. Die Botschaft, die dahintersteckt: Der Steuerwettbewerb hat seine Grenzen. Konkrete Steuerausfälle heute sind ein zu hoher Preis für eine wacklige Wette auf eventuelle neue Steuererträge in der Zukunft. Und: Wir lassen uns nicht durch Drohungen einschüchtern.»

«Das grosse Misstrauen»

«Der Kampf für die Unternehmenssteuerreform III hat ein einzigartiges Bündnis zusammengeführt. Das komplette Spektrum rechts der Sozialdemokratie war darin vereint (...) Und dann das: 59,1 Prozent Nein! Das ist nicht nur eine Willensbekundung der Bevölkerung. Das ist ein Beben, ein Akt des Misstrauens, ein Aufstand gegen die Eliten! 59,1 Prozent der Abstimmenden haben gesagt: Wir glauben euch nicht, nicht euren Schätzungen, nicht euren Beteuerungen, schon gar nicht euren Drohungen!»

«Nur der Konsens wird Erfolg haben»

«Gesiegt haben die Linken, die mit ihrem Referendum Volksabstimmung erst ermöglicht haben. Trotzdem kann man das Ergebnis nicht als Votum zugunsten linker Ideen interpretieren, sondern als solches gegen bürgerliche Regierung und Parlament. Das ist besonders deutlich erkennbar in vielen ländlichen, SVP-dominierten Gemeinden, die gestern deutlich nein gestimmt haben. Gescheitert ist die Vorlage vor allem an ihrer Unausgewogenheit. Statt die Abschaffung der Steuerprivilegien für Statusgesellschaften durch massvolle Steuerreduktionen zu kompensieren, packte die bürgerliche Parlamentsmehrheit zahlreiche Extrawünsche ins Vorhaben. Am Schluss resultierte ein Paket, das Kantonen und Gemeinden Milliardenausfälle beschert hätte.»

«Der Mittelstand versteht keinen Spass, wenn es um sein Portemonnaie geht»

«Den Befürwortern der USR III gelang es nie, die Befürchtung zu widerlegen, dass die ‹Normalverdiener› die Zeche für die Reform bezahlen werden. Sie hatten nichts zu bieten ausser Drohungen mit Arbeitsplatzverlusten oder einer noch höheren Belastung im Falle eines Neins. Das Last-Minute-Versprechen der kantonalen Finanzdirektoren, die Steuern für Privatpersonen nicht zu erhöhen, dürfte eher kontraproduktiv gewirkt und das Misstrauen geschürt haben.»

«Die Bevölkerung hat den Bschiss durchschaut»

«Es ist ungewöhnlich, dass Schweizerinnen und Schweizer bei Wirtschaftsvorlagen einen kühlen Kopf bewahren. In der Vergangenheit horchten sie meist - mit Ausnahme der Abzockerinitiative - auf die Wirtschaftsverbände. Von ihrer Seite genügte das Wort Arbeitsplätze, um einer Abstimmung den entscheidenden Dreh zu geben. Dieses Mal funktionierte das nicht. Den Linken gelang es, aus einer technischen Vorlage einen emotionalen Volk-Elite-Widerspruch zu machen. 1000 Franken würde die Reform jeden Haushalt kosten, sagten sie in ihrer Kampagne. Das war wohl übertrieben. Aber im Kern stimmte die Botschaft.»

«Die zuckersüsse Vergeltung»

«Eveline Widmer-Schlumpf war und ist keine unehrliche Populistin - sondern eine emsig und unverhüllt agierende Sachpolitikerin. Eveline Widmer-Schlumpf zeigte als Bundesrätin und zeigt als alt Bundesrätin auch kein brillantes Charisma - sondern erfrischend ehrliches, rechtschaffendes Tun. Und sie hat geduldig und lange gewartet, bis sie die noch offene Rechnung mit der SVP begleichen konnte. Knapp zehn Jahre nach dem unsäglichen Spiel der Volkspartei unter dem damaligen Präsidenten Ueli Maurer hat Widmer-Schlumpf das Spiel in die eigene Hand genommen: Die Zeit der subtilen Rache war gekommen. Mit einer einzigen (!) öffentlichen Meinungsäusserung zur fehlenden Ausgewogenheit und unsicheren Finanzierung der Vorlage stellte die vertrauenswürdige alt Magistratin ihre SVP-Peiniger, die raffgierige Wirtschaftsoberschicht und deren Handlanger im Parlament ins Abseits.»

«Kein Untergang, aber nicht folgenlos»

«Das Resultat der USR-III­Abstimmung lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, auch wenn nun wieder über die Kampagne der Gegner oder den Auftritt von Widmer-Schlumpf diskutiert wird: Das sind letztlich Nebenschauplätze. Im Kern steht das wuchtige Nein des Stimmvolkes. (...) Aber bleiben wir bei den Fakten: Das Scheitern der USR III an der Urne ist kein Todesurteil für die Schweiz. Das Parlament ist nun gefordert, einen neuen Vorschlag auszuarbeiten, auch wenn das natürlich erheblich länger dauern wird als die von den Gegnern ins Feld geführten drei Monate.»

«Zurück auf Feld eins»

«Die Unternehmenssteuerreform III war auch zu kompliziert. Und primär geplant, um die Steuerprivilegien ausländischer Holdings oder Briefkastenfirmen anzupassen, hat das Parlament daraus ein milliardenschweres Steuersenkungsprogramm gemacht. Das Fuder wurde völlig überladen. Jetzt gehts zurück auf Feld eins. Eines dürfen auch die gestrigen Sieger in ihrer Euphorie nicht vergessen. Die Schweiz darf die Steuerprivilegien nicht ohne Ersatzmassnahmen abschaffen. Sonst drohen der Wegzug von Unternehmen und der Verlust von Arbeitsplätzen.»

«Die USR3, eine Lektion für Ueli Maurer»

«Was für eine Revanche für Eveline Widmer-Schlumpf! Durch das Erstarken der SVP zum Ausstieg gedrängt, hat die frühere Bundesrätin den Kampf gegen ihren Nachfolger im Finanzministerium, Ueli Maurer, mit K.O. gewonnen. Das Nein zur Steuerreform hat viel zu tun mit ihrem Auftritt. Indem sie von einer durch das Parlament und die Kantone aus der Balance gebrachten Reform sprach, hat die Mutter des Projekts Zweifel bei den Stimmenden gesät. (...) Der entscheidende Einfluss Widmer-Schlumpfs rührt auch daher, dass sie für eine Konsenspolitik steht. Im Gegensatz dazu hat Ueli Maurer dilettantisch die Rolle eines Sprechers der selbstgefälligen Rechte übernommen.»

«Eine Lektion, die teuer werden könnte»

«Sechs von zehn Stimmenden lehnten ein Steuerprojekt des Bundesrates ab: Das ist ein erstklassige Pleite, die in der Schweizer Politik selten vorkommt. Was ist passiert? Beflügelt von ihrem Wahlerfolg hat die Rechte geglaubt, sie könne das Schiffe ganz eigenem Gutdünken steuern, ohne die ausgleichenden Forderungen der Linken auch nur in Betracht zu ziehen. Sie hat dabei aber einen Akteur vergessen: das Volk. Das Volk unterschreibt keine Blankoschecks mehr. Erst recht nicht nachdem es mit der Annahme der Abzockerinitiative seinen Unmut über die Privilegien der Grossunternehmer kund getan hat - um dann festzustellen, dass dieser Warnschuss kaum Wirkung gezeigt hat.»

«Nach dem immensen Durcheinander bei der Personenfreizügigkeit nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014 tritt die Schweiz in einem weiteren für die Wirtschaft strategischen Dossier in eine Zone der totalen Unsicherheit.»

Die Bürger, deren «Lebenskosten stärker steigen als die Löhne», hätten «dem Grosskapital gesagt: Ihr habt euch genügend Geld in die Taschen gestopft, als dass man euch auch noch ein Steuergeschenk macht», schreibt «Le Matin».

Die Genfer Tribune de Genève stellt die Abstimmung in eine Linie mit dem Brexit-Votum in Grossbritannien im Juni sowie der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten im November. Die Schweiz könne sich den gesellschaftlichen Prioritäten dieser Zeit, die über den jeweiligen politischen Systemen stehen, nicht entziehen. Sie kritisiert zudem die Komplexität der Vorlagen: «Melde sich der, der das Abstimmungsbüchlein verstanden hat.»

veröffentlicht: 13. Februar 2017 05:25
aktualisiert: 13. Februar 2017 08:40
Quelle: SDA

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