Die EM-Schmerztherapie der Weltmeister

· Online seit 08.07.2016, 23:00 Uhr
Deutschlands Protagonisten fällt es schwer, das 0:2 im EM-Halbfinal gegen Frankreich zu verdauen. Das Resultat tue weh, beeinträchtige ihr Selbstverständnis aber nicht, versicherten die Verlierer.
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«Kolossal!» Die ansatzweise ironische und dreifarbige Jubelschlagzeile der Zeitung «La Provence» dürfte auch auf den Gemütszustand der eliminierten Deutschen zutreffen. Das 0:2 gegen den Turniergastgeber löste in der DFB-Delegation einen Schmerz aus, der sich mutmasslich so kolossal anfühlt wie die landesweite französische Ekstase.

In den Reihen der auch körperlich schwer gezeichneten Weltmeister überwog der Ärger, an einem Kontrahenten gescheitert zu sein, der keinen unschlagbaren Eindruck hinterlassen hatte. Auf den Tag genau zwei Jahre nach dem monströsen 7:1 im WM-Halbfinal gegen Brasilien bestieg Joachim Löws Mannschaft die Lufthansa-Maschine ohne eine nächste Trophäe.

Vom Kollektiv, von der Mannschaft, von der Einheit reden sie nicht nur im Fussball schon länger, die Trainer, die Experten, die Systemwissenschaftler. Im Stade Vélodrôme hingegen sorgte ein Künstler ohne Grenzen für den Unterschied: Antoine Griezmann, der mal kleine, spätestens jetzt aber grosse Prinz von Macôn.

Eine solche Figur war im ansonsten perfekt organisierten deutschen Team unauffindbar. Der Weltmeister scheiterte seinerseits im Prinzip an Nuancen und an einem herausragenden Individualisten von der Qualität der französischen Ikonen Michel Platini oder Zinédine Zidane.

Wer nun glaubt, die DFB-Auswahl tue sich generell schwerer, Treffer zu schiessen, vergisst die Kennzahlen der Leader. Das Quartett Bastian Schweinsteiger, Toni Kroos, Mesut Özil, Thomas Müller brachte neben dem Fundus von 347 Länderspielen einen Output von 87 Treffern auf den Platz.

«Auf solche Zahlen kommt meine Mannschaft nicht», stellte Frankreichs Sélectionneur Didier Deschamps nach dem 2:0-Triumph lapidar fest. Aber auf andere: Seit 1960 haben Les Bleus im eigenen Land kein Endrundenspiel mehr verloren, die deutschen Helden von Rio de Janeiro dagegen stemmten sich nach 58 Jahren in einem kapitalen Duell erstmals erfolglos gegen die Trikolore.

Die Equipe von Deschamps hatte zudem einen Finisseur der Extraklasse zu bieten, derweil bei der weltbesten Turniermannschaft Thomas Müller, im Münchner Normalfall ein Winner-Typ par excellence und in den letzten beiden WM-Turnieren ein Toptorschütze, in Frankreich nie richtig auftauchte; sondern zum Problemfall wurde.

Müller konnte Joachim Löw definitiv nicht gemeint haben, als er über die «wahnsinnig gute Körpersprache» dozierte. «Aber heute ist relativ viel schiefgelaufen.» Einiges sei auch «dumm gelaufen», ergänzte Manager Oliver Bierhoff. Jene Passagen der Aufarbeitung der Enttäuschung waren dann schon eher auf den komplett glücklosen Müller zugeschnitten.

Der Bundestrainer tat sich generell sehr schwer mit der erst vierten Knock-out-Niederlage seiner zehnjährigen Ära. Die Serie von Ausfällen - in der 60. Minute verlor er nach Mats Hummels, Sami Khedira und Mario Gomez auch noch den Abwehrchef Jérôme Boateng - schlug ihm aufs Gemüt: «Das war und ist nicht einfach zu verkraften.»

Die erheblichen Umstrukturierungen waren in der unangenehmen Hitze des Südens gegen die euphorisierten Einheimischen nicht mehr zu bewältigen. Sogar von einer Equipe nicht, die mittlerweile jederzeit in der Lage ist, ihren Stil auf höchstem Niveau den gegebenen Umständen anzupassen. Löw verzichtete vorerst auf eine vertiefte Ursachenforschung: «Manchmal kommen in einem Spiel viele Dinge zusammen, die nicht positiv sind.»

Nach Möglichkeit versuchte Löw immer wieder, das unfreundliche Ergebnis während der Besprechung der unwiderruflichen EM-Fakten auszublenden. Pech, fehlendes Glück. Der Handballer Schweinsteiger, Joshua Kimmichs Pfostenschuss, weitere verpasste Chancen, 65 Prozent Ballbesitz, der Mut zur Offensive.

«Wir haben wahnsinnig viel investiert, der Gegner war nicht besser.» Der Trotz des stolzen Verlierers, unzählige Komplimente für die Ausgeschiedenen: «Es gibt keine Vorwürfe ans Team. Wir spielten ein gutes Turnier. So viele Fehler habe ich nicht festgestellt.»

Löw verlässt Marseille aufrechter als vor vier Jahren die polnische Metropole Warschau. Das 1:2 gegen Italien bebte wochenlang nach, das Out gegen Frankreich nimmt er anders wahr: «Damals sind wir anders ausgeschieden - der Gegner hatte uns etwas voraus.»

Unter medialen Beschuss wird der Coach nicht (mehr) geraten, den der deutsche Würdenträger Ottmar Hitzfeld auf eine Stufe mit Helmut Schön und Jupp Derwall stellt. Die relevanten Meinungsmacher haben ihr Urteil bereits gefällt: «Löw muss Bundestrainer bleiben!» Spätestens nach überstandener EM-Schmerztherapie ist mit Löws offiziellem Commitment für die nächste Kampagne zu rechnen.

veröffentlicht: 8. Juli 2016 23:00
aktualisiert: 8. Juli 2016 23:00
Quelle: SDA

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