«Die Flucht ist ein enormes Risiko»

23.01.2017, 16:38 Uhr
· Online seit 23.01.2017, 15:55 Uhr
Schätzungsweise 5000 Flüchtlinge sind letztes Jahr im Mittelmeer ertrunken. Unzählige Hilfsorganisationen haben versucht, so viele wie möglich zu retten. Die St.Gallerin Antonia Zemp war für Ärzte ohne Grenzen vor Ort.
Angela Mueller
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«Manchmal hat es so wenig gebraucht - ein freundliches Wort oder ein Händedruck, um ein Lächeln auf die leidgeprüften Gesichter der Flüchtlinge zu zaubern und ihnen ein bisschen Würde zurückzugeben», sagt Antonia Zemp. Sie arbeitete als Pflegefachfrau auf dem Rettungschiff «Dignity 1» von Ärzte ohne Grenzen (Médicine sans Fronitère - MSF).

Das fünfzig Meter lange ehemalige Transportschiff kann rund 400 Flüchtlinge an Bord nehmen. «Einmal sind so viele kleine Boote gleichzeitig in Not geraten, dass wir fast 600 Flüchtlinge aufnehmen mussten», sagt Antonia Zemp. Ein Schiff einer anderen Organisation kam zur Hilfe und übernahm einen Teil der Passagiere.

Zum Teil Tag und Nacht auf den Beinen

Trotz all der Bemühungen sind letztes Jahr etwa 5000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertunken, gemäss Schätzungen verschiedener internationaler Hilfsorganisationen dürfte die Dunkelziffer wesentlich höher sein. «Die Menschen gehen mit ihrer Flucht über das Mittelmeer wissentlich ein enormes Risiko ein», sagt Zemp. «Sie versuchen einer hoffnungslosen Situation zu entfliehen.»

«Oftmals haben die Menschen auf der Flucht mehrere Monate unter den unwürdigsten Umständen gelebt, haben gehungert oder wurden gefoltert», sagt die 33-Jährige. «Bei uns auf dem Schiff konnten sie sich für einige Tage ausruhen, bevor wir sie nach drei Tagen in Sizilien in ihre unsichere Zukunft in Europa entliessen.»

Auf der «Dignity 1» hat Antonia Zemp zum Teil Tag und Nacht gearbeitet und ist dabei auch an ihre eigenen Grenzen gekommen: «Ich habe den Menschen zugehört und Unsägliches erfahren.»Vieles wird die 33-jähriges wohl nie mehr vergessen. «Als mir eine Frau das erste Mal ihre Vergewaltigung schilderte, war das für mich wie ein Hammerschlag.»

Zu wenig Schmerzmittel an Bord

Brutal waren auch die Verletzungen, die Antonia Zemp zu sehen bekam. In manchen lecken Flüchtlings-Booten ist Benzin aus den Tanks ausgelaufen. «Frauen und Kinder sassen in diesem Gemisch aus Salzwasser und Benzin. Dies verursacht die gleichen Verletzungen wie Feuer - sie hatten grossflächige Verbrennungen an Gesäss und Beinen.»

Während des Sommers musste die «Dignity 1» deshalb mehrmals zurück in ihren Mutterhafen in Barcelona, um zusätzliches Morphium zu holen. «Verbrennungen sind unsäglich schmerzhaft, wir hatten einen enormen Bedarf an Schmerzmittleln.»

Zemp war schon im Jemen, in Nepal und Kolumbien

Antonia Zemp ist eine leidenschaftliche Vertreterin von Ärzte ohne Grenzen. Sie wuchs in Wattwil auf, lernte in Zürich Kinderpflegefachfrau arbeitete im Kinderspital St.Gallent. «Schon während meiner Ausbildung war ich fasziniert von MSF.» 2013 ging ihr Traum, auf einem Schiff der MSF zu arbeiten, in Erfüllung und sie konnte seither verschiedene Einsätze, zum Beispiel im Jemen, in Sierra Leone, Nepal oder Kolumbien bestreiten.

Ende November musste die «Dignity 1» ihren Einsatz beenden, das Schiff würde dem harten Mittelmeer-Wellengang während des Winters nicht Stand halten. Zemp konnte sich einen Monat zu Hause von ihrem harten, eindrücklichen Einsatz erholen.

«Die Leute müssen erfahren, was auf dem Mittelmeer passiert»

Jetzt arbeitet sie in der Schweiz für MSF. Sie hält Fotovorträge und gibt Interviews. «Es ist wichtig, dass die Menschen aus erster Hand erfahren, was auf dem Mittelmeer passiert.» Seit letzter Woche ist Zemp wieder auf Pikett. «Ich kann jeden Moment für einen neuen Einsatz gerufen werden», sagt sie und die Abenteuerlust und Leidenschaft strahlt aus ihren Augen.

Antonia Zemp tritt am Montag auf TVO im Talk mit Moderatorin Natascha Verardo auf.

Eine dramatische Rettung auf dem Mittelmeer:

Ab 18 Uhr ist Antonia Zemp heute bei TVO zu Gast.

veröffentlicht: 23. Januar 2017 15:55
aktualisiert: 23. Januar 2017 16:38

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