«Fussball ist ein Nörgelsport»

25.07.2016, 18:21 Uhr
· Online seit 25.07.2016, 17:28 Uhr
Die neue Hymne des FC St.Gallen polarisiert. «Üses Lied» kommt nicht bei allen gleich gut an. Und doch: Der FC St.Gallen hat sich etwas getraut. Das sieht auch Pascal Claude so. Auf seiner Webseite 45football.com digitalisiert er Schallplatten von Fussballliedern. Er ist Experte auf dem Gebiet der Fussballhymnen.
Sandro Zulian
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FM1Today: Pascal, die Frage aller Fragen direkt vorweg: Ist das ein guter Song?

Pascal: Ich finde den Song als Ganzes nicht schlecht. Gelungen ist der Text, mit historischen Bezügen und den guten Bildern mit der weissen Linie und dem grünen Feld. Es gibt sogar einen ironischen Verweis auf eine wenig schmeichelhafte Episode der St.Galler Fussballgeschichte. Als ein Helikopter den Schiedsrichter aus dem Stadion retten musste, weil ein Mob wütender St.Galler vor dem Stadionausgang gewartet hat. Diese Textpassage reimt sich dann auch noch auf das Wort «Zelli». Persönlich habe ich grad zu Beginn aber eher an den FC Schaffhausen gedacht, weil für mich «e chlini Stadt» in Ostschweizer Dialekt zu eng an Dieter Wiessmann geknüpft ist. Aber Jüngere kennen das Lied eventuell gar nicht mehr. Die Melodie ist an sich okay. Das Tempo aber eher langsam und der Refrain etwas gar lang für meinen Geschmack.

Die Hymne erinnert unseren Fussball-Song-Experten an das Lied «Bloss e chlini Stadt» von Dieter Wiessmann. Hier, damit ihn die Jungen auch wieder kennen:

 

FM1Today: Hat der Song Stadionpotenzial? Kann er in einem Hexenkessel funktionieren?

Pascal: Das kann ich nicht einschätzen. Ich habe ihn im Stadion noch nie gehört. Aber er könnte sich im Saisonverlauf etablieren. Steigt der FCSG 2017 ab*, wird die Hymne als Vereinsrequiem in die Geschichte eingehen. Kommen die St.Galler in den Cupfinal, wird die Hymne zum Soundtrack des Triumphes. Wenn man hört, was für Vereinshymnen zum Beispiel in der Bundesliga von den Leuten akzeptiert werden, und mit welchen Zumutungen sich die Fans offenbar arrangieren können, muss man sagen: Ja, der Song hat sehr viel Stadionpotenzial.

FM1Today: Warum wird der Song im Netz dermassen «gehatet»? Warum die vielen schlechten Kommentare?

Pascal: Gibt es irgendeinen Beitrag im Netz, der nicht unweigerlich auch einen Haufen negative Kommentare mit sich bringt? Nie war Defätismus billiger zu haben als heute. Dann scheidet so ein Versuch einer Hymne natürlich die Geister, durchaus zurecht. Es gibt nun mal keinen allgemeinen Musikgeschmack, nicht einmal für Stadionhymnen. Und Fussball ist ein Nörgelsport.

FM1Today: Was fällt dir sonst noch an «Üserem Lied» auf?

Pascal: Die Gemächlichkeit des Liedes orientiert sich zweifellos an englischen Vorbildern. Von diesen ist aber zu sagen, dass keine der bekannten Vereinshymnen wie «You'll Never Walk Alone», «Bubbles», «Red Robin» oder auch «Blue Moon» als Stadionsong konzipiert war. Es waren ältere Songs aus völlig fussballfremdem Kontext, die von den Fans übernommen wurden. Diese Songs mussten nie um Akzeptanz kämpfen, weil sie sie nicht gesucht haben. Bei einer bewusst fürs Stadion geschriebenen, etwas penetrant auf Gänsehaut ausgerichteten Hymne wie der vorliegenden, ist das anders: Sie muss sich genau dem messen lassen, was sie sein will.

*Pascal Claude kommt aus Zürich und weiss nicht, dass der FC St.Gallen ganz bestimmt nicht absteigt.

Die angesprochenen Fanhymnen zum Nachhören:

You'll never walk alone - FC Liverpool

Bubbles - West Ham United

Red Red Robin - Charlton Athletic

Blue Moon - Manchester City

Der TVO-Bericht zum neuen Fansong:

(saz)


veröffentlicht: 25. Juli 2016 17:28
aktualisiert: 25. Juli 2016 18:21

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