Lichtsteiner: «Schlagzeilen sind für mich nichts Neues mehr»

04.10.2016, 15:35 Uhr
· Online seit 04.10.2016, 14:05 Uhr
Stephan Lichtsteiner spricht vor den beiden kommenden WM-Qualifikationsspielen der Schweiz über die Fortschritte unter Vladimir Petkovic und über seine aktuell unangenehme Situation in Turin.
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Wie werten Sie den guten Start gegen Portugal?

«Um das 2:0 gegen den Europameister einordnen zu können, muss ich etwas weiter ausholen. Mir kommt zuerst das Camp in Lugano in den Sinn. Als wir dort eintrafen, ging ein Ruck durch das Team.»

Ein Ruck?

«In jeder Beziehung. Die Trainings, die Teambildung, alles passte; die Mannschaft fand in den Tagen im Tessin zusammen. Der Coach bereitete das Turnier mit uns perfekt vor, das ungünstige halbe Jahr nach der EM-Qualifikation war kein Thema mehr.»

Dann war der gute Auftakt in der WM-Kampagne für Sie die logische Fortsetzung der EM-Endrunde?

«Wir spielten ein gutes Turnier, auch wenn das gewisse Extra fehlte. Gegen Portugal gelang uns dieser Effort, weil alles passte. Hätten wir gegen Polen (im Achtelfinal) eine ähnliche prozentuale Umsetzung hinbekommen, wäre ein 4:1 oder 5:1 möglich gewesen.»

Die Schweiz hat in den letzten wichtigen Spielen eine auffällig aktive Rolle gespielt. Ist die selbstbewusste Vorgabe, gegen jeden Gegner mehr Ballbesitz zu erreichen, inzwischen verinnerlicht?

«Wir kennen unsere Qualitäten. In Frankreich haben wir einen weiteren Schritt gemacht. Es gelingt uns, gut organisiert und mutig aufzutreten. Die Automatismen sitzen, die Basis steht. Und wir schaffen es auch, gegen Teams, die sich 15, 20 Meter weiter hinten positionieren, zu Möglichkeiten zu kommen.»

Die Mannschaft wirkt besser ausbalanciert.

«In guten Momenten ist man in der Regel besser geordnet, in Spielen wie gegen die Portugiesen oder gegen die Polen stimmte die Balance.»

In der Ära von Petkovic war das nicht immer der Fall, oder?

«Für mich ist die Entwicklung erklärbar. Wir kamen im Sommer vor zwei Jahren direkt aus einer guten Kampagne und standen noch unter den Eindrücken des Argentinien-Spiels (Out im WM-Achtelfinal). Wenige Wochen nach dem Trainerwechsel stand das schwierige Heimspiel gegen die Engländer an. Wir hatten Chancen, sie schossen die Tore. Nach der zweiten Niederlage in Serie kam eine gewisse Unruhe auf. Ich will die Thematik eigentlich gar nicht mehr im Detail aufgreifen - die Captain-Frage wurde diskutiert, dazu gab es gewisse Probleme, die ans Team herangetragen worden sind.»

Das Nationalteam bewegt, Spekulationen gibt es immer. Kann die Equipe denn inzwischen besser mit dem öffentlichen Diskurs umgehen?

«Wir können externe Einflüsse einschätzen und damit umgehen. Die Spieler haben gemerkt, dass man den Kollegen in der Nationalmannschaft vertrauen kann, dass man auf sie zählen kann. Wir in der Mannschaft wissen, was Sache ist, was relevant ist.»

Die plötzlich wieder aufgeflammte Kosovo-Debatte um Granit Xhaka zum Beispiel?

«Intern geniesst Granit 100-prozentigen Support. Wir verstehen seine heikle Lage. Egal, was er macht, irgendjemand kritisiert ihn immer. Das hat längst jeder von uns kapiert.»

Im Fall des Trainers kam die Skepsis nicht nur von externer Seite. Wie ist der Status von Petkovic seit der EM?

«Er hat jene, die Zweifel hegten, mit harter und guter Arbeit überzeugen können. Vladimir Petkovic musste das Team zuerst kennen lernen, er musste herausfinden, wie die Gruppe auch auf sozialer Ebene tickt, welche personellen Entscheide nötig sein würden. Solche anspruchsvollen Prozesse gehen nicht von heute auf morgen.»

Und?

«Das Ergebnis ist sichtbar. Alle haben verstanden, was er will, wonach er sucht. Auf dem Platz ist seine Handschrift erkennbar. Wir schaffen es, seine Ideen umzusetzen.»

Sie selber sind als Captain ähnlich exponiert wie der Selektionär. Wie hat sich Ihre Rolle verändert?

«Ich bin stolz, die Mannschaft anführen zu dürfen. Aber mal ganz ehrlich: Exponiert bin ich seit Jahren durch meinen Klub Juventus. Schlagzeilen sind für mich nichts Neues mehr.»

Sie rückten jahrelang als Stammspieler eines europäischen Topklubs ein. Ihren Status haben Sie im Klub erstmals eingebüsst. Wie gehen Sie mit dieser ungewohnten Situation um?

«Ruhig, ganz ruhig sogar. Ich habe schon viel gewonnen in meiner Karriere und nicht zuletzt mit Juventus sehr viel erreicht und einen aktiven Beitrag leisten können. Juve, Lazio, Lille, mein Weg im Nationalteam. Existenzängste kommen sicher keine auf. Aber klar, kein Fussballer, der mit Herzblut dabei ist, wünscht sich, in so eine Situation zu geraten.»

Gökhan Inler verlor vor einem Jahr in Leicester die Perspektiven und später seinen Platz im Nationalteam. Wie schätzen Sie Ihre eigene Konstellation ein?

«Wenn man im Klub nicht mehr spielt, kann man die Fakten nicht komplett ausblenden. Nur sollte man immer berücksichtigen, wie die Begleitumstände sind. Es kann schon mal passieren, bei einem Kaliber wie Juve unter Druck zu geraten.»

Sie machen sich keine Sorgen um Ihre Stellung innerhalb der SFV-Auswahl?

«Wir haben im nächsten Sommer zwar kein grosses Turnier vor der Brust, man weiss trotzdem nie, was passiert. Und im Profi-Fussball ist es natürlich grundsätzlich so, dass jene mit der besten Form spielen sollten. Aber ich werde im Verein auf meine Spielzeit kommen.»

Wie geht es weiter in Turin? In der Champions League verzichtet der Verein freiwillig auf Sie. Bahnt sich ein Transfer an?

«Ich akzeptiere meine Situation bei Juve so, wie sie ist. Festgefahren ist nichts, und ich bleibe zu 100 Prozent Profi. Ich will nicht allzu weit vorausblicken und gebe Gas wie immer. Ich werde in jenen Spielen, die man mir anbietet, alles geben. Mein Ehrgeiz lässt gar nichts anderes zu, meine Einstellung bleibt. Qualität setzt sich durch.»

veröffentlicht: 4. Oktober 2016 14:05
aktualisiert: 4. Oktober 2016 15:35
Quelle: SDA

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