Maturaarbeit wird Kinofilm

· Online seit 03.10.2015, 07:40 Uhr
Der Thurgauer Jann Kessler hat als Maturaarbeit einen Film über Multiple Sklerose gedreht, der jetzt als Überraschungshit in die Kinos kommt. Im Film porträtiert er unter anderem seine kranke Mutter.
Christine König
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„Mama hat Multiple Sklerose, schon seit ich denken kann. Seit vielen Jahren kann sie nicht mehr sprechen. Mich interessiert, wie andere Menschen mit MS leben.“ Mit diesen Worten beginnt der Film „Multiple Schicksale“, der ab 22. Oktober in den Schweizer Kinos läuft. Jann Kessler aus Felben porträtiert darin Betroffene. Er beleuchtet das Schicksal von MS-Patienten, dasjenige seiner Mutter und nicht zuletzt sein eigenes. Als Jann Kessler fünf Jahre alt war, erhielt seine Mutter die Diagnose Multiple Sklerose – für ihn und seine Familie war nichts mehr wie zuvor.

Filmen als Ausweg

Der 19-Jährige arbeitet derzeit als Technik-Supporter und plant ein Elektrotechnik-Studium an der ETH Zürich. In seiner Freizeit ist er Filmemacher, hat mit zwei Kollegen das Künstlerkollektiv Revolta gegründet. Was als Hobby eines Zehnjährigen begann, hat mit dem Film seinen (vorläufigen) Höhepunkt gefunden. „Durch das Filmen konnte ich die Probleme und Erfahrungen mit der MS meiner Mutter in Projekte ersticken, konnte von daheim weg und mit Freunden zusammen sein.“ Diese Bewältigungstaktik ging lange gut. „Dann merkte ich, dass mich die Situation stärker beschäftigt. Ich musste etwas ändern, um mich weiterzuentwickeln. So entschloss ich mich zur Flucht nach vorne.“ Für ihn hiess das: sich sein Medium zunutze zu machen, einen Film über Menschen mit MS zu drehen und diesen als Maturaarbeit an der Kantonsschule Frauenfeld abzugeben.

Sieben Protagonisten

Weil ihm seine Mutter nicht mehr Auskunft geben konnte, musste er sich andere Protagonisten suchen, die seine Fragen beantworteten: Was ist das für eine Krankheit? Wie verändert sie einen? Was passiert bei den Angehörigen? Jan Kessler findet Bernadette, die lacht, obwohl ihr nicht mehr so oft danach ist. Luana, die sich ermutigende Worte auf den Arm tätowiert. Er trifft Melanie, die einen wortreichen Schutzwall um sich baut. Oliver, der seine Kräfte im Alltag einteilen muss. Graziella, die versucht, die Normalität aufrechtzuerhalten. Und er begegnet Rainer, der freiwillig aus dem Leben scheidet.

Lange war Jann Kessler unschlüssig, ob er die Geschichte seiner Mutter im Film verarbeiten soll. „Ist es richtig, meine Mutter zu filmen, obwohl sie sich dazu nicht mehr äussern kann? Diese Frage beschäftigte mich. Wir haben in der Familie entschieden: Ja, Mama soll Teil des Filmes werden. Sie ist der rote Faden und hält die anderen Geschichten zusammen – und sie steht für meine eigene Suche, für meine Reise.“

Über 100 Stunden Filmmaterial

Jann Kessler hat das Drehbuch geschrieben und Regie geführt, war für Kamera und Ton verantwortlich und hat gleichzeitig die Protagonisten interviewt. Die Kamera platzierte er auf dem Stativ, damit er frei für die Gespräche war. Die Schicksale gingen ihm nahe. In einem Projektjournal verarbeitete er seine Eindrücke. 50 Mal besuchte er die Protagonisten, am Anfang kostete es ihn Überwindung, auf die Menschen zuzugehen. Doch bald entstand Vertrauen und es ergaben sich Freundschaften, die er bis heute pflegt. Auch zu seiner Mutter wurde der Kontakt intensiver. Nach strengen Drehwochen kamen über 100 Stunden Filmmaterial zusammen. Drei Wochen blieben Jann Kessler bis zur Abgabe seiner Maturaarbeit. Fast pausenlos arbeitete er im Studio.

Ehrlich und authentisch

Nach der Präsentation der Maturaarbeit war der Tenor eindeutig: Dieser Film soll an die Öffentlichkeit. Jann Kessler freut sich über das für ihn unerwartet grosse Echo. «Zur Präsentation kamen gegen 200 Personen, Platz hatte es für 80. Da realisierte ich, dass dieser Film nicht nur mir etwas bringt, sondern auch vielen anderen.» Der 19-Jährige suchte sich Unterstützung, konnte seine Arbeit technisch, inhaltlich und dramaturgisch verbessern. Im Januar 2015 wurde der Film an den Solothurner Filmtagen gezeigt. „Multiple Schicksale“ berührt durch seine ehrliche und authentische Art und regt zum Nachdenken an. Er hinterfragt den Umgang mit Menschen mit dieser entzündlichen Nervenkrankheit, mit Menschen, die eine Einschränkung haben, die nicht dem Leistungsideal der Gesellschaft entsprechen. Das abstrakte Krankheitsbild der MS wird durch die sieben Schicksale fassbar. Jann Kessler verfolgte ein Ziel während der Arbeiten: Verständnis zu schaffen. Und er selber konnte dank der Auseinandersetzung mit der Krankheit akzeptieren, warum seine Mutter nicht für ihn da sein konnte. Er hat seinen Weg gefunden, die Beziehung zu ihr zu pflegen: Ein- bis zweimal pro Woche besucht er sie und liest ihr aus Büchern vor.  (ckö)

www.ms-film.ch

https://www.facebook.com/MultipleSchicksale

veröffentlicht: 3. Oktober 2015 07:40
aktualisiert: 3. Oktober 2015 07:40

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