Maturaarbeit wird Kinofilm
„Mama hat Multiple Sklerose, schon seit ich denken kann. Seit vielen Jahren kann sie nicht mehr sprechen. Mich interessiert, wie andere Menschen mit MS leben.“ Mit diesen Worten beginnt der Film „Multiple Schicksale“, der ab 22. Oktober in den Schweizer Kinos läuft. Jann Kessler aus Felben porträtiert darin Betroffene. Er beleuchtet das Schicksal von MS-Patienten, dasjenige seiner Mutter und nicht zuletzt sein eigenes. Als Jann Kessler fünf Jahre alt war, erhielt seine Mutter die Diagnose Multiple Sklerose – für ihn und seine Familie war nichts mehr wie zuvor.
Filmen als Ausweg
Der 19-Jährige arbeitet derzeit als Technik-Supporter und plant ein Elektrotechnik-Studium an der ETH Zürich. In seiner Freizeit ist er Filmemacher, hat mit zwei Kollegen das Künstlerkollektiv Revolta gegründet. Was als Hobby eines Zehnjährigen begann, hat mit dem Film seinen (vorläufigen) Höhepunkt gefunden. „Durch das Filmen konnte ich die Probleme und Erfahrungen mit der MS meiner Mutter in Projekte ersticken, konnte von daheim weg und mit Freunden zusammen sein.“ Diese Bewältigungstaktik ging lange gut. „Dann merkte ich, dass mich die Situation stärker beschäftigt. Ich musste etwas ändern, um mich weiterzuentwickeln. So entschloss ich mich zur Flucht nach vorne.“ Für ihn hiess das: sich sein Medium zunutze zu machen, einen Film über Menschen mit MS zu drehen und diesen als Maturaarbeit an der Kantonsschule Frauenfeld abzugeben.
Sieben Protagonisten
Weil ihm seine Mutter nicht mehr Auskunft geben konnte, musste er sich andere Protagonisten suchen, die seine Fragen beantworteten: Was ist das für eine Krankheit? Wie verändert sie einen? Was passiert bei den Angehörigen? Jan Kessler findet Bernadette, die lacht, obwohl ihr nicht mehr so oft danach ist. Luana, die sich ermutigende Worte auf den Arm tätowiert. Er trifft Melanie, die einen wortreichen Schutzwall um sich baut. Oliver, der seine Kräfte im Alltag einteilen muss. Graziella, die versucht, die Normalität aufrechtzuerhalten. Und er begegnet Rainer, der freiwillig aus dem Leben scheidet.
Lange war Jann Kessler unschlüssig, ob er die Geschichte seiner Mutter im Film verarbeiten soll. „Ist es richtig, meine Mutter zu filmen, obwohl sie sich dazu nicht mehr äussern kann? Diese Frage beschäftigte mich. Wir haben in der Familie entschieden: Ja, Mama soll Teil des Filmes werden. Sie ist der rote Faden und hält die anderen Geschichten zusammen – und sie steht für meine eigene Suche, für meine Reise.“
Über 100 Stunden Filmmaterial
Jann Kessler hat das Drehbuch geschrieben und Regie geführt, war für Kamera und Ton verantwortlich und hat gleichzeitig die Protagonisten interviewt. Die Kamera platzierte er auf dem Stativ, damit er frei für die Gespräche war. Die Schicksale gingen ihm nahe. In einem Projektjournal verarbeitete er seine Eindrücke. 50 Mal besuchte er die Protagonisten, am Anfang kostete es ihn Überwindung, auf die Menschen zuzugehen. Doch bald entstand Vertrauen und es ergaben sich Freundschaften, die er bis heute pflegt. Auch zu seiner Mutter wurde der Kontakt intensiver. Nach strengen Drehwochen kamen über 100 Stunden Filmmaterial zusammen. Drei Wochen blieben Jann Kessler bis zur Abgabe seiner Maturaarbeit. Fast pausenlos arbeitete er im Studio.