Nach dem Ende einer Ära

· Online seit 16.12.2016, 06:08 Uhr
Bei uns gibt es einen Adventskalender der speziellen Art: Auch wir öffnen im Dezember Türen, aber solche, hinter die man eigentlich nicht – oder nicht mehr – schauen kann. Heute gewährt uns Markus Stücheli Einblick in die leeren Produktions- und Montagehallen der stillgelegten Firma Müller Martini in Felben.
Stephanie Martina
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Markus Stücheli öffnet eine grosse Türe. Sie führt direkt in die Halle 59, in jene Montagehalle, die wohl bei den meisten ehemaligen Mitarbeitern gemischte Gefühle auslöst. Es ist jener Ort, an dem den 340 Angestellten die Hiobsbotschaft verkündet wurde, dass die Firma Müller Martini Buchbindesysteme AG ihren Standort in Felben nach knapp 100 Jahren aufgeben werde. Weil der Umsatz aufgrund des Strukturwandels in der Druckbranche um 60 Prozent eingebrochen war, sollte der grösste Standort geopfert werden, um die übrigen drei Standorte des Unternehmens zu retten. Auch Markus Stücheli war an diesem Donnerstagnachmittag Ende Juni 2013 in der Halle und wartete darauf, was ihnen am einberufenen Informationsanlass mitgeteilt werden würde.

«Am Mittag habe ich zu meiner Frau noch gesagt, dass es bestimmt keine grosse Sache sein wird. Doch dann waren wir alle in der Halle 59 versammelt und plötzlich betraten die beiden wichtigsten Personen des Konzerns die Halle – ab diesem Moment war uns allen klar, was das zu bedeuten hat», erinnert sich der 55-Jährige. Es sei ein schrecklicher Tag gewesen – nicht nur für jene, die ihre Stelle verlieren würden, auch für die Geschäftsleitung, welche die Nachricht überbringen musste. «Unser damaliger Geschäftsführer hatte Tränen in den Augen als er uns eröffnete, dass es den Standort Felben in etwa zwei Jahren nicht mehr geben würde», sagt Markus Stücheli, der heute den «Müller Martini Park» verwaltet.

Brand beendet Weihnachtsfeier

Der Rundgang durch das Gebäude, in dem Buchbindemaschinen hergestellt wurden, führt von einer leeren Halle in die nächste. Hin und wieder weist ein Schild darauf hin, wozu die Hallen genutzt wurden. «In dieser hier hat es vor rund zehn Jahren am letzten Arbeitstag des Jahres gebrannt», erzählt der Weinfelder. Die ganze Belegschaft sei am 23. Dezember in der Lagerhalle gemütlich beisammengesessen, um das Arbeitsjahr ausklingen zu lassen, als plötzlich der Alarm losgegangen sei. Für Markus Stücheli als Gebäude- und Sicherheitsverantwortlicher begannen hektische Tage, denn die ganze Halle musste wegen des Russes zwischen Weihnachten und Neujahr gereinigt werden. «Der Sachschaden betrug über eine halbe Million Franken. Jedoch wissen wir bis heute nicht, warum das Feuer ausgebrochen war.»

Etwas wehmütig denkt er an jene Zeiten zurück, in denen in den heute leerstehenden Hallen noch Hochbetrieb herrschte, als noch etwas los war, als auch mal etwas schiefging. An die Jahre, in denen in der Fabrikation noch Metallteile hergestellt wurden, die dann in den Montagehallen zu verschiedenen Buchbindemaschinen zusammengesetzt wurden. Die Firma gehörte zu den grössten Industriebetrieben des Kantons Thurgau. Zu Spitzenzeiten haben in diesen Hallen und Büros fast 600 Personen gearbeitet. Doch seit 2008 gab es immer wieder Kündigungswellen, aber der harte Kern sei stets geblieben. «Das Arbeitsklima in Felben war immer einzigartig, wir alle zogen am selben Strick. Viele von uns arbeiteten seit Jahrzehnten zusammen und wussten genau, was sie aneinander hatten», sagt Markus Stücheli.

Bedrückende Leere

Bis im Frühling 2015 verloren über 200 Mitarbeiter ihre Arbeit. Etwa 40 Personen erhielten eine Stelle am Hauptsitz der Müller Martini in Zofingen, für die 39 Lehrlinge suchte man Ersatzlösungen. In Felben konnte lediglich der Kunden- sowie der Ersatzteildienst mit rund 40 Arbeitsplätze gerettet werden. Seither steht der grösste Teil der ehemaligen Büroräumlichkeiten, Produktions-, Montage- und Lagerhallen leer. Alle ehemaligen Produktionsmitarbeiter, Programmierer, Konstrukteure, Anlagemonteure und Lageristen sind gegangen, einer nach dem anderen – nur einer streift noch durch die leeren Hallen – Markus Stücheli. «Etwa ein Jahr lang hatte ich grosse Mühe mit dieser Situation. Die immer leerer werdenden Hallen waren kaum zu ertragen», gesteht er. Doch inzwischen habe er sich an die Stille und Leere gewöhnt und die neue Situation annehmen können. «Ich war drei Wochen in den Ferien und als ich zurückkam, konnte ich die Müller-Martini-Zeiten loslassen und anfangen, nach vorne zu blicken.»

Verfall setzt langsam ein

Doch nicht nur Markus Stücheli, der seit 27 Jahren in Felben bei Müller Martini arbeitet, hatte mit der neuen Situation zu kämpfen, auch den Hallen merkt man an, dass sie nicht gerne leer stehen. «Besonders der Boden leidet unter den grossen Temperaturschwankungen zwischen Sommer und Winter, da nun nicht mehr oder kaum noch geheizt wird», erklärt Stücheli und zeigt auf Risse im Boden. Neben den nötigsten Reparaturen ist der Verwalter bis heute – knapp zwei Jahre nach der Schliessung des Standorts Felben – mit der Liquidation beschäftigt. Noch immer stellt er laufend nicht mehr benötigtes Material wie Metallregale online zum Verkauf und löst die letzten noch verblieben Arbeitsplätze auf.

«Während ich teilweise noch dabei bin, die letzten Überreste aus Müller-Martini-Zeiten zu beseitigen, geht es gleichzeitig darum, die leerstehenden Hallen mit Neuem zu füllen», erklärt Stücheli. Dies gestalte sich jedoch schwieriger als erwartet. Eigentlich sei man davon ausgegangen, dass bis Ende 2016 die meisten Räume vermietet seien und der geplante Industrie- und Gewerbepark Form annehme. «Davon sind wir heute weit entfernt», sagt Stücheli. Noch immer ist über die Hälfte der 30'000 Quadratmeter grossen Fläche ungenutzt.

Zwei Hallen und ein Nebengebäude konnten an regionale Betriebe vermietet werden. Weitere passende Anfragen seien jedoch bis jetzt ausgeblieben. Zwar würden sich immer wieder Personen melden, die in den Fabrikhallen eine Go-Kart-Bahn, ein Tanzstudio oder eine Indoor-Surf-Anlage einrichten wollen, doch dafür seien die Räumlichkeiten noch zu gut Instand und der Mietpreis sei den Meisten zu hoch. «Wir möchten die freien Hallen am Liebsten an Industriebetriebe vermieten. Daran ist wohl auch die Gemeinde Felben-Wellhausen interessiert», betont Stücheli.

Ein letztes Überbleibsel

Einen breiten Gang entlang führt Markus Stücheli ins Warenlager. Hier befindet sich das Hochregallager, in dem 16'000 Behälter mit rund 50'000 verschiedenen Teilen gelagert wurden. Auch Dieses steht leer. Ideal wäre es, wenn die Halle 01 an einen Versandhandel vermietet werden könnte, sagt Markus Stücheli und erklärt sogleich, dass die Nummer der Halle übrigens immer für deren Baujahr steht. Inzwischen hätten sie jedoch alle Gebäudeteile neu beschriften müssen, da diese Nummern nur intern funktioniert hätten, für externe Mieter seien sie zu komplex. Doch Markus Stücheli spricht trotzdem von den alten Müller-Martini-Nummern – wenigstens das behält er bei – auch wenn sonst nichts mehr ist, wie es einmal war.

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veröffentlicht: 16. Dezember 2016 06:08
aktualisiert: 16. Dezember 2016 06:08

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