Die grosse Säuberungswelle beginnt

16.07.2016, 22:17 Uhr
· Online seit 16.07.2016, 13:07 Uhr
Der Putschversuch in der Türkei ist gescheitert. Nun beginnt die grosse Säuberungswelle: Erdogan entlässt fast 3000 Richter aus ihren Ämtern. Deutschland, die USA und Russland verurteilen den Putschversuch aufs Schärfste.
Michael Ulmann
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2700 Richter wurden nach dem gescheiteren Putsch abgesetzt - fast ein Fünftel der schätzungsweise rund 15'000 Richter in der Türkei. Der Chef der Richtergewerkschaft Yargiclar, Mustafa Karadag, sagte der Nachrichtenagentur dpa in Istanbul, nicht nur mutmassliche Unterstützer des Putsches, sondern auch völlig unbeteiligte Kritiker von Erdogan würden festgenommen.

Offiziellen Angaben zufolge wurden in einer ersten Aktion auch mehr als 2800 Putschisten aus den Reihen der Streitkräfte festgenommen. Fünf Generäle und 29 Oberste sollen nach Angaben aus Regierungskreisen ihrer Posten enthoben worden sein.

Erdogan kündigte eine «vollständige Säuberung» des Militärs an. Er bezeichnete den Freitagnacht gestarteten Putschversuch dafür als einen «Segen Gottes». Acht türkische Soldaten setzten sich mit einem Militärhelikopter nach Griechenland ab und beantragten dort politisches Asyl. Sie sollten möglicherweise ausgeliefert werden.

265 Todesopfer

Bei 161 der 265 Todesopfern handelt es sich laut Ministerpräsident Binali Yildirim um regierungstreue Sicherheitskräfte oder Zivilisten. Hinzu kommen 104 getötete Putschisten. 1140 Menschen seien verletzt und 2839 Putschisten festgenommen worden. Die Festnahmen dauerten am Samstag an.

Unter den Verletzten ist auch ein Schweizer, wie das Eidgenössische Departement für Auswärtige Angelegenheiten (EDA) am Samstag mitteilte. Das Generalkonsulat in Istanbul stehe mit der betroffenen Person in Kontakt. Das EDA hatte in der Nacht zum Samstag auch seine Reisehinweise zur Türkei angepasst und rief Schweizer Staatsbürger auf, sich an die Anweisungen der Behörden zu halten.

«Situation unter Kontrolle»

Die Regierung übernahm am Samstagmittag wieder die volle Macht im Land. Der amtierende Stabschef des Militärs, Ümit Dündar, sagte, der Putsch sei verhindert worden. Er drohte den Gegnern der Regierung in den Streitkräften mit harter Vergeltung. Dündar war von der Regierung als kommissarischer Generalstabsschef eingesetzt worden, nachdem Putschisten Armeechef Hulusi Akar vorübergehend in ihre Gewalt gebracht hatten.

Panzer und Helikopter

Am späten Freitagabend war in der Türkei Chaos ausgebrochen, als eine Gruppe Militärangehöriger versucht hatte, die Macht an sich zu reissen. Sie setzten Panzer und Helikopter ein; Istanbul und Ankara wurden von Explosionen und Schüssen erschüttert. Die Flughäfen wurden geschlossen.

Die Putschisten übernahmen die Kontrolle über den staatlichen Fernsehsender TRT. Eine Ansagerin verlas auf Geheiss des Militärs eine Erklärung, in der der Regierung vorgeworfen wurde, die demokratische, säkulare Rechtsordnung zu untergraben. Kurz darauf stellte TRT den Sendebetrieb kurzzeitig ein. Die türkische Armee sieht sich als Wächterin der weltlichen Verfassung des Landes und hatte in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt gegen die Zivilregierung geputscht.

Gülen beschuldigt

Erdogan, der sich in den Ferien an der Küste befunden hatte, traf in der Nacht auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul ein, den die Verschwörer vergeblich unter ihre Kontrolle zu bringen versuchten. Der Präsident machte die Bewegung eines einstigen Verbündeten, des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen, für den Putschversuch verantwortlich. «Sie werden einen sehr hohen Preis für diesen Verrat zahlen», sagte Erdogan. Gülen wies die Anschuldigung vehement zurück und verurteilte den Putschversuch.

International wurde der Putschversuch ebenfalls scharf verurteilt. Die Vereinten Nationen, die EU, die USA und Russland zeigten sich besorgt und riefen zu Gewaltverzicht auf. Dagegen wurden aus der syrischen Hauptstadt Damaskus Freudenschüsse gemeldet. Erdogans Regierung gehört zu den Gegnern von Syriens Präsident Baschar al-Assad.

Merkel verurteilt Putschversuch

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Putschversuch ebenfalls «aufs Schärfste» verurteilt. «Es ist tragisch, dass so viele Menschen diesen Putschversuch mit dem Leben bezahlt haben.» Sie forderte, dass das Blutvergiessen ein Ende haben müsse. «Es ist und bleibt das Recht des Volkes, in freien Wahlen zu bestimmen, wer es regiert. Panzer auf den Strassen und Luftangriffe gegen die eigene Bevölkerung sind Unrecht», erklärte sie weiter.

veröffentlicht: 16. Juli 2016 13:07
aktualisiert: 16. Juli 2016 22:17
Quelle: sda/red

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