Rentnerin schwimmt gegen das Horn-Verbot

27.07.2017, 16:41 Uhr
· Online seit 27.07.2017, 16:37 Uhr
Seit Schiffe auf dem Zürichsee nicht mehr grundlos hornen dürfen, tobt ein Sturm der Entrüstung durch Seegemeinden und Leserspalten bis über die Kantonsgrenzen hinaus. Eine 85-Jährige protestiert auf ihre eigene Art.
René Rödiger
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von Lena Schenkel/NZZ

Sylvia Bachofen kennt den Stäfner Schiffsfahrplan auswendig. Nicht dass sie regelmässig ein Kursschiff bestiege; die 85-Jährige fährt meistens Auto. Vielmehr richtet sie neuerdings ihr Schönwetter-Schwimmprogramm im Zürichsee danach aus. Nähert sich das Gefährt, schwimmt ihm Bachofen entgegen und paddelt rege mit den Füssen, damit sie der Kapitän sicher sieht. Ihr Ziel: das Schiff zum Tuten zu bringen.

Dieses waghalsige Vorgehen ist sozusagen der zivile Ungehorsam der alten Dame, ihre Form des Widerstands. Seit Beginn des Monats hornen die Kursschiffe auf dem Zürichsee nämlich nur noch im Ausnahmefall. Davor stiessen sie jahrzehntelang traditionsgemäss bei jeder An- und Abfahrt oder bloss zum Gruss kurz ins Horn. Ein Seeanwohner empfand diesen Laut indes als Lärm. Er intervenierte beim Bundesamt für Verkehr (BAV), das ihm recht gab: In der Binnenschifffahrtsverordnung ist ein solches Signal nicht vorgesehen. Seither bleiben die Schiffe stumm – es sei denn, die Sicherheitslage erfordert ein richtungsangebendes Signal oder einen langen Warnton.

Genau diesen provoziert Bachofen in Stäfa nun wenn immer möglich. Sie schwamm schon im Zürichsee, als ihre Grossmutter sie noch als Knirps im Korkgurt an einer Leine der Quaimauer entlangziehen musste. Für sie als «Seemeitli» gehöre das Hornen der Schiffe zum Zürichsee wie das Schnattern der Enten und Schwäne oder das Kreischen der Möwen, erzählt sie. Fehlte noch, dass das ebenfalls verboten würde. Sie vermisst den vertrauten Klang: «Es ist, wie wenn etwas gestorben wäre.» Bachofen kann sich nicht vorstellen, wer sich dagegen gewehrt haben könnte. «Bei allen Problemen auf der Welt stört sich einer ausgerechnet an diesem Geräusch?», fragt sie ungläubig. Es könne kein Alteingesessener gewesen sein, mutmasste sie in einem Leserbrief an die «Zürichsee-Zeitung», den sie mit einer «riesigen Wut im Bauch» verfasst habe.

«Shitstorm» am Zürichsee

Schlimm findet Bachofen, dass sich der Initiant nicht öffentlich zu seinem Anliegen bekannte. Sie hofft, dass er zumindest den «Shitstorm» zu spüren bekomme, der derzeit tobe. Zu diesem haben sie und etliche Gleichgesinnte beigetragen, welche die medialen Kommentarspalten dies- und jenseits des Sees mit Worten des Ärgers und des Bedauerns füllten. Einer forderte den Beschwerdeführer auf, in die Wüste zu ziehen, andere schlugen ironisch vor, sämtliche Kirchen- und Kuhglocken zu verbannen. Sogar Goethe wurde zitiert, um die lange Tradition des kurzen Hornens zu verteidigen: Er soll es, inspiriert von einem Aufenthalt in Stäfa, bereits in «Wilhelm Meisters Wanderjahre» verewigt haben. Nur einer befand, das geschähe der Zürichsee-Schifffahrtsgesellschaft recht, nachdem sie seit Dezember für jede Fahrt einen zusätzlichen Fünfliber verlange. Gott strafe eben sofort.

Dass das Thema emotional hohe Wellen schlägt, merkt auch der Chefkapitän der Zürichsee-Schifffahrtsgesellschaft, Pascal Wieders. Tagtäglich beobachte er vom Führerstand aus fragende Blicke, enttäuschte Kindergesichter und irritierte Touristen. Zuvor nie mit Klagen wegen des nonkonformen Signals konfrontiert, gingen nun, da es abgeschafft worden sei, Beschwerdebriefe ein. Als er neulich an einer Veranstaltung mit mehreren hundert Gästen vorbeigefahren sei, habe es plötzlich «Hornen, hornen!» vom Ufer her geschallt. «Wie an einer Demo», sagt er und lacht. Wenn es wegen einer Gefahrensituation tatsächlich dazu kommt, würde mancherorts geklatscht und gejohlt. So auch im Bistro bei der Schiffstation Stäfa, unweit von Bachofens Badestelle. Dort hören die Angestellten beständig Klagen über den ausbleibenden Klang. An diesem Nachmittag stammen sie von zwei Damen am Glacestand: Weil das Schiff seine Abfahrt nicht mehr ankündigen dürfe, müssten sie nun früher an den Steg kommen, sagen sie.

Nicht gesetzeskonform, aber sinnvoll

Das sehr kurze Hornen habe sich nicht nur für Passagiere, sondern auch für Mannschaft und See-Mitbenutzer als Aufmerksamkeits- oder Warnsignal während mindestens fünfzig Jahren bewährt, sagt Wieders in der Werft in Wollishofen. Dass das Signal zwar nicht gesetzeskonform, aus nautischer Sicht aber sinnvoll war, findet auch der Betreiber einer Bootsschule im Stadtzürcher Seebecken, der nicht namentlich genannt werden will. Er vergleicht es mit dem kurzen Klingeln des Trams, das den Fussgängern seine Abfahrt ankündigt und sie vor dem Queren der Gleise warnt. Erst bei Kollisionsgefahr ertöne das lange schrille Klingeln. Auf dem See bleibe den Kapitänen nur noch Letzteres: Statt einer Viertelsekunde müssen sie korrekt vier Sekunden lang hornen. Das sei zum einen gefährlicher, weil damit länger zugewartet werde, und zum anderen aufdringlicher. «Es ist lauter geworden im Seebecken», sagt er.

Dass die Kursschiffkapitäne das vorgeschriebene lange Signal in der Praxis bis dato aus Rücksicht gegenüber Anwohnern nur in Ausnahmefällen ausstiessen, ist nicht frei von Ironie. Genauso, dass just der einzige Lärmgeplagte unter ihnen wohl vermehrt den notabene 16-mal längeren Ton vernehmen wird. Anzunehmen, dass die rund 35 Schiffsführer aus Trotz öfters zu dieser Massnahme griffen, sei falsch, stellt ihr Chef klar. Mit Blick auf den dicht überbauten Hang oberhalb der Werft sagt Wieders: «Das möchten wir den Anwohnern nicht antun.» Er bestreitet jedoch nicht, dass es angesichts des hohen Verkehrsaufkommens auf dem See theoretisch immer einen Grund dafür gebe, das lange Warnsignal abzugeben. Stur weiterzututen, wie manche fordern, komme nicht infrage: Die Kapitäne riskierten damit ein Administrativverfahren. Lieber wäre ihm, das kurze Hornen würde als neues Signal in die Binnenschifffahrtsverordnung aufgenommen.

Wo kein Kläger, da kein Richter

Das diente wohl auch anderen Schifffahrtsgesellschaften, denen die bisherige Zürcher Praxis nicht fremd sein dürfte, die bis dato jedoch keine Post vom BAV erhalten haben. Stefan Schulthess, Direktor der Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersees und Präsident des Verbandes Schweizerischer Schifffahrtsunternehmen, sagt: «Ich müsste lügen, wenn ich sagte, das gibt es bei uns und anderen nicht.» So sei es beispielsweise auf dem Vierwaldstättersee üblich, dass sich zwei Dampfschiffe beim Queren zuhornten. Aber: Wo kein Kläger, da kein Richter. Und solange keine entsprechenden Forderungen von anderen Schifffahrtsgesellschaften vorlägen, sieht er keinen Handlungsbedarf, seitens des Verbands eine Änderung der Schifffahrtsverordnung anzuregen. Wie gut die Chancen stünden, dort ein neues Signal hinzuzufügen, wagt er sich nicht auszurechnen. Diese sei in einen internationalen Kontext eingebettet, gibt er zu bedenken. Sie anzupassen, bedingte einen Bundesratsbeschluss.

Einen solchen könnte vielleicht Nationalrat Gregor Rutz (svp.) erwirken. Er betitelte den Fall gegenüber der «Zürichsee-Zeitung» als absurd und erkundigte sich beim BAV formell nach dem erfolgten und geplanten Vorgehen in der Sache. Dabei fragte er explizit nach den Modalitäten einer Gesetzes- oder Verordnungsänderung. Die Antwort sei noch in Bearbeitung, heisst es beim Bundesamt auf Anfrage. Dort nimmt man den Sturm der Entrüstung gelassen – obschon neben Rutz’ Vorstoss einige E-Mails erboster Bürger eingegangen sind, wie Mediensprecher Gregor Saladin bestätigt. Grundsätzlich seien Interessenkonflikte am besten direkt zwischen Anwohnern und Schifffahrtsunternehmen zu lösen. Was die zu erwartenden langfristigen Folgen der Angelegenheit betrifft, vermutet Saladin: «Diese Suppe wird kaum so heiss gegessen werden, wie sie derzeit gekocht wird.»

Dieser Artikel erschien am 27. Juli 2017 in der NZZ

veröffentlicht: 27. Juli 2017 16:37
aktualisiert: 27. Juli 2017 16:41

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