Stimmvolk lehnt Atomausstiegsinitiative mit 54,2 Prozent ab

27.11.2016, 17:10 Uhr
· Online seit 27.11.2016, 05:15 Uhr
Die Laufzeit der Schweizer Atomkraftwerke wird nicht befristet. Volk und Stände haben die Atomausstiegsinitiative der Grünen abgelehnt, und zwar deutlicher als erwartet: 54,2 Prozent der Stimmenden sagten Nein. Energieministerin Doris Leuthard zeigte sich erleichtert.
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Leuthard bedankte sich am Sonntag vor den Medien in Bern im Namen des Bundesrats für das Vertrauen. «Ich bin erleichtert über diesen Ausgang», sagte sie.

Der Ausstieg aus der Kernenergie sei sinnvoll, sollte aber schrittweise und nicht übereilt erfolgen. Der Entscheid lasse die nötige Zeit für den Umbau der Energieversorgung und den Ausbau der Netze. Das Volk habe hier keine Risiken eingehen wollen. Es habe signalisiert, dass es keine übereilte Abschaltung der Atomkraftwerke wolle.

Insgesamt lehnten rund 1'301'500 Personen die Atomausstiegsinitiative ab, 1'098'500 Personen legten ein Ja in die Urne. Die Vorlage spaltete die Schweiz teilweise entlang des Röstigrabens: Vier Westschweizer Kantone Waadt stimmten Ja, am deutlichsten der Kanton Genf mit 59 Prozent, gefolgt von den Kantonen Jura und Neuenburg mit rund 57 Prozent und Waadt mit 55 Prozent. Die Kantone Freiburg und Wallis lehnten die Initiative ab, aber relativ knapp.

In den meisten Deutschschweizer Kantonen war diese dagegen chancenlos. Nur die Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft sagten Ja, Basel-Stadt deutlich mit 60,5 Prozent, Basel-Landschaft knapp mit 50,4 Prozent. Am deutlichsten Nein sagte der Kanton Schwyz mit 68 Prozent, gefolgt von Appenzell Innerrhoden mit 66 Prozent und Nidwalden mit 65 Prozent.

Mit dem Nein zur Atomausstiegsinitiative bleibt offen, wann das letzte Schweizer AKW vom Netz geht. Die Atomkraftwerke bleiben nun solange am Netz, wie die Aufsichtsbehörde sie als sicher einstuft, sofern die Betreiber sie nicht aus wirtschaftlichen Gründen abschalten. Bei einem Ja zur Initiative hätten die AKW Beznau I und II sowie Mühleberg 2017 abgeschaltet werden müssen, Gösgen 2024 und Leibstadt 2029.

Den Ausgang der Abstimmung dürfte vor allem die Diskussion über die Kosten beeinflusst haben. Die AKW-Betreiber wollten Ansprüche geltend machen für nicht amortisierte Investitionen, die sie auf Basis des geltenden Rechts mit unbefristeter Betriebsbewilligung getätigt haben. Der Bundesrat rechnete mit Schadenersatzklagen in dreistelliger Millionenhöhe pro AKW.

Die Betreiber drohten im Abstimmungskampf jedoch mit höheren Summen, Axpo etwa mit Forderungen von über 4 Milliarden Franken für die AKW Beznau und Leibstadt. Die Initianten gaben zu bedenken, dass die Produktion von Atomstrom ein Verlustgeschäft sei. Die Betreiber könnten nicht behaupten, ihnen würden Gewinne entgehen. Mit dem raschen Abschalten der AKW liesse sich vielmehr Geld sparen und das Risiko für den Steuerzahler verkleinern.

Eine Rolle gespielt haben mag auch die Angst vor Strommangel und Blackouts. Zwar hätte der Atomstrom durch Importe ersetzt werden können. Laut den Gegnern hätte das aber zu Überlastung der Netzinfrastruktur führen können.

Die Gegner - auch Energieministerin Leuthard - warnten zudem vor Dreckstrom aus Atom- und Kohlekraftwerken, den die Schweiz bei einem Ja zur Initiative importieren müsste. Die Initianten stellten das in Abrede. Aus ihrer Sicht hätte der Atomstrom mit einheimischem und importiertem grünem Strom ersetzt werden können. Bei den Stimmenden blieben aber offenbar Zweifel.

Nach dem Nein zur Atomausstiegsinitiative steht nun die Energiestrategie 2050 im Fokus, über die sich das Stimmvolk voraussichtlich auch noch äussern wird. Die SVP hat das Referendum gegen das erste Massnahmenpaket ergriffen. Wie sich die Wirtschaftsverbände und die FDP positionieren werden, ist offen.

Das Paket beinhaltet den langfristigen Atomausstieg: Im Gesetz wird verankert, dass der Bau neuer Atomkraftwerke verboten ist. Eine Laufzeitbeschränkung hatte das Parlament abgelehnt. Auch wollte es auf Gesetzesebene keine speziellen Regeln für alte AKW erlassen. Solche sind allerdings auf Verordnungsebene geplant.

Das erste Massnahmenpaket zur Energiestrategie soll 2018 in Kraft treten. Kommenden Februar will Bundesrätin Leuthard eine revidierte Verordnung dazu in die Vernehmlassung schicken, trotz der laufenden Unterschriftensammlung für ein Referendum. Eine mögliche Referendumsabstimmung stehe den Vorarbeiten nicht entgegen, sagte Leuthard. Komme es zur Abstimmung, sei der Bundesrat zuversichtlich: «Ich freue mich auf die nächste Abstimmung.»

In ersten Massnahmenpaket zur Energiestrategie sind auch Ziele für die Stromproduktion aus neuen erneuerbaren Energien festgelegt. Diese soll von heute rund 3 Terawattstunden bis 2035 auf mindestens 11,4 Terawattstunden steigen. Das wäre etwa halb so viel, wie die Schweizer AKW heute produzieren.

Für die Förderung der erneuerbaren Energien würde mehr Geld zur Verfügung stehen als heute. Der Netzzuschlag, den Stromkonsumenten berappen, soll auf 2,3 Rappen steigen. Eine vierköpfige Familie würde das rund 100 Franken im Jahr kosten, 44 Franken mehr als heute. 0,2 Rappen aus dem Netzzuschlag sind für Subventionen an bestehende Grosswasserkraftwerke reserviert.

Daneben ist mehr Energieeffizienz angesagt: Der Energieverbrauch pro Person und Jahr soll - gemessen am Stand des Jahres 2000 - bis 2035 um 43 Prozent sinken, der Stromverbrauch um 13 Prozent. Zentrales Instrument bleibt das Gebäudeprogramm, für das mehr Geld eingesetzt werden soll. Die Abstimmung findet frühestens am 21. Mai 2017 statt.

Im Parlament wiederum beginnen bald die Beratungen zur zweiten Etappe der Energiestrategie, dem Klima- und Energielenkungssystem (KELS). Der Bundesrat will die Fördermassnahmen ab 2021 mit Lenkungsabgaben ersetzen. In der Vernehmlassung sind die Pläne auf heftige Kritik gestossen. Sollten sie die parlamentarische Beratung überstehen, wird das Volk auch darüber befinden.

veröffentlicht: 27. November 2016 05:15
aktualisiert: 27. November 2016 17:10
Quelle: SDA

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