«Unter uns ertrinken Menschen»

27.04.2017, 15:40 Uhr
· Online seit 27.04.2017, 14:03 Uhr
Wie bereits letztes Jahr versuchen Ostschweizer Piloten auch heuer Flüchtlinge vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu bewahren. Pilot Fabio Zraggen schildert, wie der erste Einsatz des Jahres verlaufen ist und warum jeder Suchflug mit gemischten Gefühlen verbunden ist.
Stephanie Martina
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Seit dem 13. April fliegen Ostschweizer Piloten wieder übers Mittelmeer, um in Seenot geratene Flüchtlingsboote der Küstenwache, anderen staatlichen und auch privaten Rettungsorganisationen zu melden. Doch dieses Jahr stehen die Piloten bei ihren Suchflügen vor einem grossen Problem: Es sind kaum Rettungsboote auf dem Wasser, die sie zu den Flüchtlingsbooten lotsen könnten. «Wir haben aus der Luft eine gute Übersicht über die Situation – und darüber, welche Schiffe sich wo befinden. Wir stellten aber leider fest, dass die Schiffe der europäischen Grenzschutzbehörde ‹Frontex› nicht im Einsatzgebiet waren,» erklärt Fabio Zgraggen, Pilot und Gründer der Humanitären Piloteninitiative HPI.

Letztes Jahr seien jeweils bis zu sieben staatliche Rettungsschiffe im Gebiet unterwegs gewesen. Diesmal war es nur ein einziges. Warum europäische Staaten keine Schiffe schicken, weiss Zgraggen nicht. Die Situation bereitet ihm aber grosse Sorgen. «Wenn sich die staatlichen Schiffe tatsächlich zurückziehen, dann wird das zu einer grossen Katastrophe führen.» Schon letzten Sommer waren die Ostschweizer Piloten im Einsatz und konnten bei der Rettung von rund 1200 Menschen helfen. «Dieses Jahr werden es ziemlich sicher mehr sein», sagt Zgraggen. Allein bei ihrem ersten Einsatz in diesem Jahr waren sie bei der Rettung von mehreren hundert Flüchtlingsbooten beteiligt.

Chaotische Zustände

Dass sich die Flüchtlingssituation auf dem Mittelmeer zuspitzt, hat sich bereits am Osterwochenende gezeigt, als es teils zu chaotischen Zuständen auf dem Meer gekommen ist. Es seien sehr viele Flüchtlingsboote unterwegs gewesen, einige waren stark überfüllt und in schlechtem Zustand. «An solchen Tagen kommen die privaten Rettungsboote der Hilfsorganisationen an ihre Grenzen», bedauert Zgraggen. Zwar hätten sie durch ihre Suchflüge vor Ort helfen können, allerdings kam auch für viele Menschen jede Hilfe zu spät. «Solche Tage sind nur schwer zu ertragen. Man ist zwar vor Ort, kann aber aus der Luft nichts tun, weil es auf dem Wasser keine Rettungsschiffe gibt, die man zu den Notleidenden lotsen könnte.»

Ein Einsatz vor Ort ist für Fabio Zgraggen immer mit gemischten Gefühlen verbunden. «Einerseits ist es ein gutes Gefühl, Menschen in Not helfen zu können, andererseits ist es schwer, hilflos mit ansehen zu müssen, wie Menschen unter einem ertrinken.» Er und seine Kollegen würden deshalb versuchen, sich auf ihre Arbeit zu fokussieren und auf das, was sie geleistet hätten. Allerdings sei es manchmal schwierig, sich auf das Positive zu konzentrieren, wenn man sehe, wie Flüchtlingboote sinken und Menschen im Wasser um ihr Leben kämpfen.

Ostschweizer Piloten gefordert

Pilot Fabio Zgraggen schildert einen Einsatz vom Ostersonntag, als er ein in Seenot geratenes Flüchtlingsboot entdeckte, das von der libyschen Küste her kam: «Erst sahen wir nur einen Punkt am Horizont, dann wurde schnell klar, dass die Situation unter uns zu eskalieren droht: Kilometerweit war kein Rettungsschiff zu sehen und es waren bereits einige der über 100 Menschen über Bord gegangen.»

Durch spezielle Flugmanöver konnten die Piloten einen libyschen Fischer auf das sinkende Schlauchboot aufmerksam machen. Dieser hätte mehrere Menschen aus dem Wasser ziehen können. Gemeinsam mit den über Funk alarmierten Schnellbooten der privaten Rettungsorganisationen konnte Schlimmstes verhindert werden. «Allerdings überlebten sieben Flüchtlinge das Unglück nicht. Eine Woche zuvor ertranken bei einer ähnlichen Situation 97 Menschen», sagt Zgraggen.

Suchflüge den ganzen Sommer über

Die Humanitäre Piloteninitiative HPI wird den ganzen Sommer lang über dem Mittelmeer Suchflüge organisieren. Damit weiterhin Menschenleben gerettet werden können, ist die Organisation auf Spendengelder angewiesen. «Wir wären froh, wenn unsere Arbeit nicht nötig wäre», sagt Zgraggen. Sie seien sich bewusst, dass das, was sie tun, reine Symptombekämpfung sei. Es brauche politische Lösungen. Zum Beispiel mit der Schaffung sicherer Einreisewege.

Derzeit sei das Wetter über dem Mittelmeer zu schlecht, um Suchflüge zu starten. Deshalb ist Zrgaggen momentan in der Schweiz – doch nicht für lange. Bereits am kommenden Sonntag geht’s zurück nach Malta, um weitere Suchflüge zu starten – wie immer mit gemischten Gefühlen. «Einerseits freuen ich mich, dass wir unsere Spendengelder wieder einsetzen können, um etwas für die Menschen in Not zu tun. Andererseits ist die Situation sehr bedrückend und es braucht Kraft, sich dieser immer wieder aufs Neue zu stellen.»

veröffentlicht: 27. April 2017 14:03
aktualisiert: 27. April 2017 15:40
Quelle: stm

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