Weihnachten aus Sicht von Chris dem Baum

· Online seit 22.12.2016, 10:53 Uhr
Weihnachten ist Scheisse! Eine Möchtegern-, Pseudo-Idylle, bei der es nur darum geht, mich zu quälen. Zuerst hauen sie mir den Kopf ab, dann steht mir das Wasser bis zum Hals und schliesslich zünden sie mich an. Hallo, ich bin Chris der Christbaum und mich machen Weihnachten so richtig hässig!
Lara Abderhalden
Anzeige

Anfangen tut alles wie im Horrorfilm. Wir stehen im dunkeln Wald. Es nähern sich uns vermummte Männer mit Kettensägen über den Schultern. Einem nach dem anderen sägen sie dann kaltblütig den «Grind» ab. Und mit kaltblütig meine ich, dass da dann auch Kinder zusehen. Egal wie alt oder jung man ist, mit einer Bewegung «Radibutz» wird man von seinen Wurzeln, seinem Ursprung, seiner Heimat getrennt.

Weh tut das eigentlich nicht. Und wir wissen, dass dieser Tag kommt. Schon als ich noch ein kleines Nadelbäumli war, sagte meine Mutter: «Chris, irgendwann werden sie kommen und dich holen.» Ich bin also eigentlich darauf vorbereitet und doch, schlägt mir der Harz bis zum Hals.

Kuscheln

Gemeinsam mit ein paar Kumpels werde ich auf einen Wagen geladen und dann irgendwo auf einem Platz hingestellt. Dort stehe ich nun also. Beim Gruppenkuscheln vor dem Coop und warte. Ich habe mir den Advent irgendwie besinnlicher vorgestellt. Nicht, dass ich etwas gegen Gruppenkuscheln habe, aber mit der Zeit wird das eine ganz schön harzige Sache.

Und die Menschen machen es einem auch nicht einfach, eine gewisse Nähe zu meinen Nadelkumpels aufzubauen. Kaum habe ich einen meiner Äste ausgefahren und einen Annäherungsversuch an die schöne Tanne neben mir gewagt, wird sie mir weggenommen. Ein Ausspannen folgt dem anderen und bei mir sagen sie immer nur: «Zu klein. Wir stehen auf Grössere.»

Flehend und Weinend stehe ich da. Mit erhobenem Haupt, versuche gross zu wirken, meine Nadeln auszufahren, meinen hölzernen Stamm enorm und gross wirken zu lassen. Vergebens. Die Menschen ziehen an mir vorbei und die einzige Aufmerksamkeit, den einzigen Trost, den ich kriege, ist ab und zu ein wärmespendendes Urinbad eines streunenden Rottweilers.

Kleiden

Doch plötzlich wird alles anders. Plötzlich spüre ich, dass heute mein Tag ist, dass heute die Erlösung, die Auferstehung kommt. Und tatsächlich eine junge Frau nimmt mich. Sie will tatsächlich mich. Sie packt meinen vor Freude ganz steif gewordenen Stamm und trägt mich ganz nahe an ihrem Körper zu einem Wagen. Es ist eng, sehr eng und ich breche mir einen meiner Fingernadeln. Aua!

Trotz der Horrorfahrt werde ich langsam nervös. Die Nadeln stehen mir zu Berge und ich freue mich, endlich einen Nutzen zu erhalten. Endlich, werde ich gebraucht. Ein bisschen grün hinter den Ohren, stehe ich nun in diesem Grossraumbüro. Neben mir schnarcht eine Maschine unaufhörlich und spuckt die ganze Zeit weisse Blätter aus, vor mir sitzen scheinbar konzentrierte Menschen und schauen den ganzen Tag einen viereckigen Kasten an. Was tun diese Verrückten bloss?

Doch dann kommt wieder die schöne junge Frau. Sie hat glitzernde Schleifen in der Hand und Kugeln. Liebevoll wickelt sie mich mit der goldenen Schleife ein. Das kitzelt! Pffff, doch nicht in den Mund! Dann werden mir auch noch diese hässlichen blauen Kugeln um die Arme, Beine und den Kopf gehängt. Wäh Pfoch! Wollt ihr mich eigentlich strangulieren? Das letzte bisschen Ehre aus den lampigen Ästen saugen?

Scheinen

Als die gute Dame sich mir dann noch mit einem Feuerzeug nähert, platzt mir der Kragen: «Moment, nicht mit mir!» Wie können die Menschen nur so dumm sein und denken, dass Feuer auf einen Baum gehört! Hallo! Ich bin aus Holz. Und was sollen diese harten viereckigen Kissen, die mir unter den Po geschoben werden in dieses kitschige goldene Papier gewickelt?

Ich bin hässig. Putzhässig. Ihr könnt mich alle mal, kreuzweise!

Das war wohl zu viel. Plötzlich stehen sie alle um mich und starren mich an. Ich habe Angst. Ohou. Hätte ich doch bloss meine Klappe gehalten. Mist. Die erste Hand nähert sich mir. Ich kneife die Augen zusammen. Doch statt einer Ohrfeige, greifen sie mir unter die Nadelpracht und erlösen mich von den harten Kissen. Ja, sie lobpreisen mich gar: «Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum», schreien sie, immer zu! Sie singen mich an. Ich fühle mich wie ein Gott. Sie gehen gar vor mir in die Knie und sagen so etwas wie: «Gott wurde heute geboren.»

Weinen

Mein Harz fällt mir in die Hose. Ich schäme mich. So viel Aufmerksamkeit habe ich noch nie in meinem Leben bekommen. Die ganzen Höllentorturen haben sich gelohnt. Ich bin Gott. Oh Gott! Das habe ich mir schon so lange gewünscht! Kerzenwachs rinnt mir den Stamm hinunter und ich schluchze harzhaft.

So schön dieses Erlebnis auch war, das Ende ist abrupt. Plötzlich sind da keine Menschen mehr. Das wohlig schöne Stimmenmeer wird abgelöst durch das laute Schnarchen dieser Papier spuckenden Maschine neben mir. Die Menschen lachen nicht mehr. Ihre Aufmerksamkeit gilt wieder den viereckigen Kästen. Und ich, ich warte wieder. Einsam und allein.

veröffentlicht: 22. Dezember 2016 10:53
aktualisiert: 22. Dezember 2016 10:53
Quelle: abl

Anzeige
Anzeige