«Wir alle tragen den 3. Januar in uns»

03.01.2018, 19:30 Uhr
· Online seit 03.01.2018, 07:32 Uhr
Schlimmer hätte das Jahr 2017 für die Ausserrhoder Kantonspolizei nicht starten können. Zwei Beamte wurden bei einer Hausdurchsuchung angeschossen und schwer verletzt. Heute jährt sich der Fall zum ersten Mal.
Stefanie Rohner
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«Die Kantonspolizei Appenzell Ausserrhoden ist mit einem Worst-Case-Szenario ins neue Jahr gestartet.» Das waren die Worte von Reto Cavelti, Kommandant der Kantonspolizei Appenzell Ausserrhoden, an der Medienkonferenz nach dem Einsatz. Ein Jahr ist das nun her.

Was geschah in Rehetobel am 3. Januar 2017? Der Schuppen des mutmasslichen Täters wurde wegen Verdachts auf eine Indoor-Hanfanlage durchsucht. Zuvor war der 33-Jährige zu einer Befragung zwecks Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz auf dem Polizeiposten in Heiden erschienen.

Dort lief alles noch normal, der Verdächtige wurde auf gefährliche Gegenstände durchsucht, eine Waffe wurde dabei nicht bei ihm gefunden. Die Polizei geht davon aus, dass der mutmassliche Täter eine Waffe im Schuppen versteckt hatte. Denn dort kippte die Stimmung.

Mehrere Polizisten wurden nach Rehetobel geschickt, um die Hausdurchsuchung durchzuführen. Während dieser gelang es dem Mann, eine Handfeuerwaffe zu betätigen und zwei der Beamten schwer zu verletzen.

Ums Überleben gekämpft

Ein damals 29-jähriger Polizist erlitt einen Herzsteckschuss und sein 37-jähriger Kollege wurde an den Beinen verletzt. Der Zustand des 29-jährigen Polizisten war sehr kritisch - er kämpfte um sein Leben. Beide Beamte waren rund sechs Monate später wieder zurück im Dienst.

Nach den Schüssen auf die Beamten floh der Täter zu Fuss und verschanzte sich für mehrere Stunden hinter seinem Haus. Die Polizei hatte Sichtkontakt und bemerkte, dass er einen Rucksack trug. Der 33-Jährige behauptete, dass darin Sprengstoff enthalten sei, weswegen die Polizei Roboter einsetzte. Sprengstoff wurde nicht gefunden, dafür zwei Faustfeuerwaffen und mehrere Magazine Munition.

Einem Diensthund gelang es schliesslich, den Mann zu überwältigen. Daraufhin richtete er sich selbst. Gemäss dem zuständigen Staatsanwalt Bruno Werken war der 33-Jährige vorbestraft. Er wurde 2004 wegen versuchter Tötung, mehrfacher Körperverletzung und der Widerhandlung gegen das Waffengesetz auffällig. Als junger Erwachsener sei er zwar verurteilt worden, aber nur zu einer Massnahme und nicht zu einer Freiheitsstrafe.

Näher zusammengerückt

Der Fall erregte national Aufmerksamkeit, die Medien berichteten intensiv über den Grosseinsatz. FM1Today spricht heute, ein Jahr danach, mit Polizeikommandant Reto Cavelti. «Beide Polizisten sind wieder in ihrer angestammten Abteilung. Einer der beiden zwar noch nicht im vollen Pensum, aber auf gutem Weg. Darüber sind wir überglücklich», sagt Cavelti.

Auch für alle anderen Einsatzkräfte war der 3. Januar 2017 eine Extremsituation und sie standen den ganzen Tag unter grossem Druck. Einige Mitglieder des Polizeikorps nahmen nach diesem Tag psychologische Betreuung in Anspruch.

«Es kann sein, dass ein Trauma erst Monate nach einem Ereignis aufkommt. Wichtig ist, dass die entsprechenden Gefässe vorhanden sind. Wir haben dafür speziell ausgebildete Polizisten, sogenannte Peers, die Beamte begleiten», sagt Cavelti. Es gebe aber auch externe Psychologen und Polizeiseelsorger, die zur Verfügung stehen. «Es war wichtig, Gespräche zu führen», sagt Cavelti. Insgesamt, so sagt er, habe das Ereignis das gesamte Polizeikorps näher zusammenrücken lassen.

«Ich ziehe noch immer den Hut»

Der Einsatz in Rehetobel wurde mit dem Polizeikorps detailliert aufgearbeitet. «Sensibilisiert haben wir vor allem im Bereich Trauma. Es war wichtig, zu thematisieren, was bei einem Trauma alles auf die Polizisten zukommen kann», sagt der Kommandant der Kantonspolizei Appenzell Ausserrhoden.

Bei grösseren Ereignissen finden jeweils strukturierte Analysen statt. «Aus Einsätzen lernt man, weswegen es so wichtig ist, sie zu besprechen. Wir ziehen auch immer Lehren aus anderen Polizeieinsätzen - sei es im In- oder Ausland», sagt Cavelti.

Er sagt, diese Einsatzaufarbeitung sei sehr intensiv gewesen. «Mich hat das Ereignis das ganze Jahr hindurch beschäftigt. Ich sage immer, jeder einzelne von uns trägt eine Bürde mit diesem 3. Januar 2017 mit sich herum. Aber diese Bürde ist gleichzeitig ein Rucksack mit Erfahrung für mich.»

Seine positive Erkenntnis aus dem Ganzen sei, dass die involvierten Polizisten, wie auch er selbst, einer Extrembelastung hätten standhalten und sie bewältigen können. «Ich ziehe noch immer den Hut vor jedem meiner Mitarbeitenden. Ich sagte am Abend nach dem Einsatz, dass es mir nicht in den Sinn kommen würde, auch nur einem Polizisten einen Vorwurf zu machen. Ich stehe hinter jedem Einzelnen, der sich jeden Tag für die Sicherheit einsetzt.»

Vergleichbares hat Cavelti zuvor nie erlebt. «Das war eine absolute Extremsituation. Das Korps und ich haben vor Rehetobel nichts in dieser Art erlebt. Aber wenn man seinen Dienst antritt, weiss man, dass es immer Restrisiken gibt. Von denen hofft man natürlich, dass sie nie eintreten. Dennoch muss man sich Gedanken machen, was zu tun ist, wenn zum Beispiel die eigenen Polizeibeamten in einen Schusswechsel geraten. Leider ist genau dies eingetreten.»

«Bin am richtigen Ort»

Rückblickend ist Cavelti davon überzeugt, dass die Polizisten gut vorbereitet an den Einsatz gefahren sind. «Polizeiarbeit findet nicht in einer Luftblase statt, in der alles absolut sicher ist. Deswegen sind unsere Mitarbeitenden bewaffnet», sagt er. Man habe vor der Hausdurchsuchung eine Risiko-Einschätzung gemacht, weswegen der spätere mutmassliche Täter zuerst auf dem Polizeiposten in Heiden erscheinen musste. «Er wurde durchsucht und hatte keine Waffe bei sich.»

Weckt ein solcher Einsatz Zweifel am der Berufswahl? «Zuerst funktioniert man einfach. Es gab vieles zu bewältigen und das nicht nur die ersten paar Tage. Mir persönlich ist das Korps noch viel mehr ans Herz gewachsen als zuvor. Ich habe Unterstützung gespürt, auch von meiner Familie und der Bevölkerung. Es gab eine riesige Solidaritätswelle», sagt Cavelti.

Der Vorgesetzte des Polizeikommandanten, Paul Signer (Sicherheitsdirektor und Landammann), begleitete die Geschehnisse ebenfalls. «Ich habe mich breit abgestützt gefühlt. Es gehört zum Job, auch solche Extremsituationen zu bewältigen. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, aufzuhören. Es hat mich eher darin bestärkt, zu wissen, am richtigen Ort zu sein.»

Der TVO-Beitrag zum Thema:

veröffentlicht: 3. Januar 2018 07:32
aktualisiert: 3. Januar 2018 19:30
Quelle: str

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