Coronavirus

Das macht die Corona-Krise mit Suchtkranken

27.03.2020, 18:38 Uhr
· Online seit 27.03.2020, 16:49 Uhr
Die Corona-Krise zwingt die Gesellschaft zur Isolation. Besonders für Suchtkranke stellt diese Situation eine Herausforderung dar. Das Gefahrenpotential reicht aber über die Volksdroge Alkohol hinaus.
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Isolation, soziale Abkapslung, Langeweile. Für viele hält die Corona-Krise auch persönliche Hürden bereit, die nur schwer zu überwinden sind. So auch Suchtkranke oder solche, die versuchen, von ihrer Sucht wegzukommen. Der Griff zur Flasche, der nächste Schuss oder der nächste Jackpot im Online-Casino scheinen verlockend. Auch Suchtkranke müssen lernen, mit der neuen Situation umzugehen, ohne in alte Muster zu verfallen.

«Alkoholsüchtige können in Einsamkeit verfallen»

«Die Langeweile wird zum Problem», sagt Vitus Hug, Bereichsleiter Beratung der Fachorganisation für Alkohol und Suchtfragen Blaues Kreuz St.Gallen und Appenzell. «Wenn jemand jeden Tag Alkohol trinkt, kann ich mir vorstellen, dass es nun mehr wird.» Auch dass der allabendliche Gang zum Stammtisch gestrichen ist, könne für einige eine Herausforderung sein: «Wer diesen sozialen Austausch nicht mehr hat, kann in eine Einsamkeit fallen und somit zu Hause wieder mehr trinken. Solange man nach ein, zwei Bier nach Hause geht, kann der Stammtisch gut für die Psychohygiene sein.»

Das Blaue Kreuz St.Gallen musste aufgrund des Coronavirus alle Gruppensitzungen absagen. Die Beratungsgespräche werden aber nach wie vor durchgeführt, zum Teil per Telefon, wenn die Klienten nicht auf die Fachstelle kommen dürfen oder können. Die Massnahmen vom BAG werden dort eingehalten. Schon seit Jahresbeginn seien tendenziell mehr Anfragen eingegangen, sagt Vitus Hug. Die Corona-Notlage habe diese Zahl nicht nennenswert gesteigert, jedoch hätten sich die Ängste der Suchtkranken verändert: «Die Arbeitssituation ist ein wichtiges Thema. Existenzängste kommen auf. Viele sind unsicher, ob sie ihren Job nach der Corona-Krise wieder aufnehmen können. Natürlich werden auch Sorgen betreffend der Gesundheit immer wieder angesprochen.»

Gefahr lauert im Online-Casino

Auch die St.Galler Stiftung Suchthilfe führt unter Einhaltung der Hygienemassnahmen weiter Beratungsgespräche. Neben dem Alkohol sieht die Geschäftsleiterin Regine Rust vor allem in der digitalen Welt Gefahrenpotenzial: «Geldspielangebote im Internet sind in der aktuellen Situation ein grosses Thema. Man spricht in der Suchtberatung von der Griffnähe. Im Homeoffice gibt es keinen, der einem über die Schulter schaut.» Neben den Online-Casinos gebe es aber auch noch viel näherliegende Süchte, die oft gar nicht als solche erkannt werden: «Auch der exzessive Konsum von Angeboten von Streaminganbietern oder Pornografie kann zur Sucht werden.»

Die Coronakrise macht aber auch vor dem Bereich der illegalen Suchtmittel keinen Halt. So habe sich die Beschaffungsart harter Drogen verändert, sagt Regine Rust: «Deren Handel passiert normalerweise in engem Kontakt. Das ist nun nicht mehr so leicht möglich. Wenn Drogensüchtige nicht mehr an ihre Substanz kommen, folgt der kalte Entzug.» Für diese Fälle seien Abgabestellen für Substitutionsmittel, wie beispielsweise Methadon, nach wie vor geöffnet und nehmen auch weiterhin Neuanmeldungen auf.

«Häusliche Gewalt könnte zunehmen»

Für Alkoholsüchtige stellt die Beschaffung ihrer Droge kein Problem dar. Die Lebensmittelgeschäfte sind offen, Alkohol – noch – keine Mangelware. Der Konsum kann zu Hause stattfinden. Vitus Hug bereitet besonders ein Nebeneffekt des Alkoholkonsums in den eigenen vier Wänden Kopfzerbrechen: häusliche Gewalt. «Alkohol kann aggressiv machen. Deshalb schätzt auch die Schweizer Opferhilfe, dass die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt zunehmen wird.» Um diesen Fällen vorzubeugen, hat der Dachverband Schweizer Männer- und Väterorganisationen ein Merkblatt zur Krisenbewältigung veröffentlicht.

Allerdings könne die Coronakrise auch positive Auswirkungen haben: «Der Lockdown ist eine präventive Massnahme par excellence. Diejenigen, die am Wochenende Party machen, die sogenannten Rauschtrinker, werden sehen, dass es auch ohne geht. Der Gruppendruck ist nicht mehr da.»

Allen, die unter der neuen Situation leiden, den Griff zur Flasche aber vermeiden wollen, rät Vitus Hug, sich Beratung oder Alternativen zu suchen: «Wir alle können uns aktuell die gleichen Fragen stellen: Gibt es Leute, von denen ich schon lange nichts mehr gehört habe, Geschwister, bei denen ich mich schon lange nicht mehr gemeldet habe? Diese Kontakte jetzt zu pflegen – auch wenn nur über das Telefon – kann extrem helfen.»

veröffentlicht: 27. März 2020 16:49
aktualisiert: 27. März 2020 18:38
Quelle: FM1Today

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