Zwangsstörung

Waschzwang: «Während der Coronakrise geht es mir besser»

27.05.2020, 09:08 Uhr
· Online seit 26.05.2020, 18:19 Uhr
Häufiges Händewaschen, keine Handschläge und das Desinfektionsmittel immer in Reichweite. Woran sich die meisten von uns langsam gewöhnen, gehört für andere seit Jahren zum Alltag. Wie erlebt jemand mit einer Zwangserkrankung die Coronakrise?
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Als die Krankheit von Martina T.* ihren Höhepunkt erreicht, wäscht sie sich 50 Mal am Tag die Hände und desinfiziert diese 30 Mal. Immer wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt, muss sie sich gründlich waschen. Die Kleider werden direkt im Eingangsbereich deponiert und selbst nach dem Waschen von der Alltagskleidung getrennt aufbewahrt. Zu gross ist die Angst, «den Dreck» in die Wohnung zu tragen. Martina ist im pädagogischen Umfeld tätig. Die 35-Jährige leidet seit acht Jahren unter einem Waschzwang.

Für Martina begann die Krankheit mit einer beruflichen Stresssituation und entwickelte sich schleichend. «Den Stress auf der Arbeit konnte ich nicht kontrollieren. Also steigerte ich mich in etwas hinein, was ich kontrollieren konnte.»

Die vierthäufigste psychische Erkrankung

Gemäss Esther Vetsch, Fachpsychologin aus Zug, liegt das Risiko, im Leben an einer Zwangsstörung zu erkranken, bei zwei bis drei Prozent. Damit sind Zwangsstörungen nach Depressionen, Phobien und Suchterkrankungen die vierthäufigste psychische Erkrankung. Bei der Frage ob man gefährdet sei, wenn man sich selber häufig die Hände wäscht, verneint die Psychologin. Zwänge werden dann zur Krankheit, wenn sie jedes Mal von einem bestimmten Ritual begleitet werden und sich ständig und zeitintensiv wiederholen. Beispielsweise wenn die Hände täglich 20 bis 30 Mal gewaschen werden, auch mehrmals nacheinander, erklärt Esther Vetsch.

Auch Martinas Alltag ist von Ritualen geprägt. Sie kennt für bestimmte Gegenstände und Situationen unterschiedliche Sauberkeits-Empfindungen. Für Martina ist das Bett beispielsweise sauberer als das Handy. Deshalb wird das Handy immer zuerst desinfiziert, bevor Martina es ins Bett mitnimmt.

Lässt sich der Gang auf ein öffentliches WC nicht vermeiden, dann wird auch dies von einem Ritual begleitet. Nur mit dem rechten Daumen und Zeigefinger öffnet Martina die Tür. Mittel- und Zeigefinger sind für das Anfassen von Toilettenpapier. Ihre Hose lässt sie nur mit dem kleinen Finger runter.

Coronakrise hat positive Effekte

«Während der Coronakrise geht es mir grundsätzlich besser», sagt Martina. Sie muss ihre Hände und den Stuhl im Restaurant nicht mehr heimlich desinfizieren. Dass keine Hände mehr geschüttelt werden, wirkt sich ebenfalls positiv aus. «Endlich gehöre ich zu den Normalen.»

Es sind jedoch nicht nur Waschzwänge, auf die sich die Coronakrise auswirkt. Gemäss Thomas Burri vom Luzerner Selbsthilfezentrum sind die Rückmeldungen durchs Band positiv. «Von Burnout betroffene Personen berichten, dass es ihnen aktuell besser geht, weil der Leistungsdruck im Homeoffice gesunken ist», erklärt Burri. Auch Personen mit Angst vor Menschenmassen berichten positiv. Dank Homeoffice und weil weniger Menschen draussen unterwegs sind, gehe es diesen Menschen besser.

Kerstin Gabriel Felleiter, Chefärztin Ambulante Dienste der Luzerner Psychiatrie, teilt diese Beobachtungen nicht ganz. «Patienten mit Zwangserkrankungen empfinden momentan eher eine Erleichterung. Manche Zwangsrituale sind inzwischen «normal» geworden.», so die Chefärztin. Dafür habe ein Teil der Patienten mit Angststörungen durch die «konkrete Bedrohung» eine stärkere Panik entwickelt. Auch Beziehungskonflikte und häusliche Gewalt kämen häufiger vor. Einige IV-Rentner wiederum fühlten sich weniger stigmatisiert, da auch andere Menschen wochenlang nicht arbeiten konnten, führt die Chefärztin aus.

Dennoch ist Martina froh, wenn die Corona-Krise bald vorbei ist. Denn nur dann kann sie ihre Therapie normal weiterführen: Und da gehört Händeschütteln nunmal dazu.

*Name von der Redaktion geändert.

veröffentlicht: 26. Mai 2020 18:19
aktualisiert: 27. Mai 2020 09:08
Quelle: PilatusToday

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