Die 5 Phasen nach dem Festival

02.07.2018, 11:30 Uhr
· Online seit 02.07.2018, 11:23 Uhr
Es ist nicht unbedingt nur der Kater, der einem an einem Montag das Leben schwer macht. Es sitzt viel tiefer und fühlt sich an wie eine Sonntagsdepression – nur schlimmer, denn der Montag nach dem Openair hätte nie erfunden werden dürfen. In diesen fünf Phasen leiden wir.
Lara Abderhalden
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Phase 1: Trauer

Am Anfang sind nur ein dumpfes Drücken in der Brust und ein kleiner Knollen im Hals zu spüren. Das Tobel wird ein letztes Mal bestiegen, es wird das Stars & Stripes oder die Sitterbühne angesteuert, nur um im letzten Moment in Richtung Ausgang abzubiegen. Schaut man mit gepacktem Rucksack und Klappstuhl unter dem Arm auf die Zeltlandschaft, fühlt es sich an, als würde man auf die Heimat, das eigene kleine Dorf hinabblicken, das man nun verlassen muss. Man verlässt mit Sack und Pack das wohl behütete Elternhaus. Nur warten am anderen Ende kein Abenteuer und auch kein Flugzeug, sondern ein vollgestopfter Bus und eine Waschmaschine.

Der Boden der Realität ist fast so hart wie der Zeltboden der letzten drei Nächte. Aber es kommt noch härter.

Phase 2: Depression

Die anfängliche Trauer vergrössert sich mit jedem Meter, mit dem man sich weiter vom Sittertobel entfernt. Steigt man schliesslich aus dem Bus oder Zug, fällt einem vor allem etwas auf: die Stille. Wo ist der ständig vibrierende Bass? Wo der Kollege, der die ganze Truppe unterhält? Und warum fliegt einem kein Bier um den Kopf? Spätestens wenn man den Hausschlüssel in das Türschloss steckt, die Tür öffnet und seinen Plunder auf dem Boden wirft, trifft einen die Last des Alltags wie eine Ohrfeige der Ex. Auf einem Mal wird dir nämlich bewusst, dass du nicht einfach mit dem Campingstuhl auf dem Balkon Platz nehmen und eine Schützengarten-PET-Flasche öffnen kannst. Naja, warum eigentlich nicht?

Phase 3: Ungewissheit

In dieser Phase ist man hin- und hergerissen zwischen: Soll ich jetzt auspacken und Wäsche waschen oder einfach nur schlafen? Muss ich die Schuhe putzen oder kann ich es mir auf dem Sofa gemütlich machen? Ist das, was ich fühle, eine richtige Depression oder ein Kater? Bin ich betrunken oder einfach nur müde? Brauche ich ein Bier oder Wasser? Bestelle ich Pizza oder mache ich mir einen Topf Spaghetti? Wann arbeite ich morgen und was muss ich dafür noch packen? Während vier Tagen musste man weder überlegen noch einen Finger krümmen und plötzlich gibt es so viel zu tun: «sooooo streng!».

Phase 4: Akzeptanz

Nach der Anstrengung kommt die Akzeptanz. Plötzlich erkennt man, dass das Ende des Openairs nicht gleich das Ende der Welt bedeutet. Das Leben hat durchaus auch positive Seiten. Und so zügelt man vom Campingstuhl auf das Sofa, trinkt ein kaltes statt lauwarmes Bier und geniesst es, auf der Toilette Platz zu nehmen ohne diese zuerst mit WC-Papier auslegen zu müssen. Den Wasserhahn aufzudrehen und ein Glas Wasser zu trinken, ohne dafür zuerst einen Kilometer über Stock und Stein gehen zu müssen, ist fast schon Luxus und der Kleiderschrank eine viel bessere Alternative zum Rucksack. Einer der schönsten Momente nach einem Openair ist aber der Moment, in dem man sich ins Bett legt, die bequeme Matratze im Rücken spürt und die Bettdecke über die Nase zieht. Da bekommt manch einer einen Mini-Ständer und der Schlaf kommt schneller, als du nach zwei Jahren ohne Sex.

Phase 5: Alltag

Es ist wie mit allem im Leben: Irgenwie geht es schon. Auch wenn man am Morgen beim Aufstehen das Gefühl hat, man wurde gerade sieben Mal «durekätscht» und wieder ausgespuckt, gerät man schneller in den Sprudel des Alltags, als es einem lieb ist. Obwohl das Openair auch am Montagmorgen noch präsent ist. Zum Beispiel, wenn man mit geschlossenen Augen versucht, den nicht vorhandenen Reissverschluss des nicht vorhandenen Zeltes zu öffnen oder man vergeblich und verzweifelt auf den Applaus der Freunde wartet, welche einen jeden Morgen am Openair so schön begrüsst hatte. Statt einer «Schützenpfütze» gibt es einen Nespresso und das Gras im Papier landet nicht rauchend im Mund, sondern als Teebeutel im Wasser. Dass man sich nicht mehr auf dem Openair-Gelände befindet, merkt man spätestens, wenn einem die Coop-Pronto-Verkäuferin klar macht, dass man das Handgelenk nun endlich vom Kartenleser wegnehmen soll, hier könne man nicht mit dem Bändeli zahlen.

Der Alltag ist zurück, die Gedanken werden aber noch eine ganze Weile in der Sitter treiben, wie die Zigarettenstummel oder die Fäkalien der Festivalbesucher. In diesem Sinne: Alle, die heute gut aussehen, sind selbst Schuld. Wir zelebrieren die Augenringe, die Stimmlosigkeit und Spuren halbgelöster Goldtattoos und das einzige, was uns heute Freude bereit, ist das Eintragen der Ferientage für das nächste Openair. Und die ganz Harten packen bereits den Rucksack fürs Openair Frauenfeld in einer Woche.

veröffentlicht: 2. Juli 2018 11:23
aktualisiert: 2. Juli 2018 11:30
Quelle: abl

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