Die heiligen Hallen der Autobahn

19.12.2016, 14:45 Uhr
· Online seit 19.12.2016, 05:29 Uhr
Die Türe, die wir in unserem Adventskalender heute öffnen, haben viele schon gesehen. Allerdings nur von aussen. Sie steht im Rosenbergtunnel in St.Gallen. Mit der Türe öffnet sich eine unbekannte Welt. Die Welt der Tunnel-Abwarte.
Sandro Zulian
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Ein unscheinbarer Spazierweg schlängelt sich unweit der OLMA-Halle 1 in Richtung Autobahn. Gesäumt von Bäumen und Sträuchern endet der Pfad vor einem noch unscheinbareren Häuschen. Hier ist der Eingang zu den Katakomben des Rosenbergtunnels in St.Gallen. Wir tauchen ab.

Frische Luft im Falle einer Katastrophe

«Ich steige jedes Mal mit einem mulmigen Gefühl in den Frischluftkanal hinab», sagt Daniel Schmidt. Er ist der Leiter des Stützpunkts Neudorf, welcher zum Nationalstrassengebiet 6 (NSGVI ) gehört. Das NSGVI unterhält über 200 Strassenkilometer in den Kantonen Thurgau, St.Gallen, den beiden Appenzell und Glarus. Schmidt ist verantwortlich für zehn Kilometer Stadtautobahn, drei davon sind Tunnels. «Ich weiss jedes Mal, dass ich hier unten sicher bin und mir eigentlich nichts geschehen kann.» Trotzdem laste bei jedem Abstieg ein nicht klar zu definierendes Gefühl auf seiner Brust.

Hinter dem Eingang des kleinen Häuschens wird der Besucher von zwei riesigen, blauen Zylindern empfangen.

«Mit diesen Ventilatoren wird frische Luft in den Tunnel geblasen. Der Rauch eines brennenden Fahrzeugs wird in Fahrtrichtung Zürich geblasen, wo er kurz vor der Fürstenlandbrücke dank Abluftventilatoren wieder entweichen kann», erklärt Daniel Schmidt. Man will sich gar nicht vorstellen, wie laut die monströsen blauen Ventilatoren sind, wenn sie in Betrieb sind. «Die laufen eigentlich nie. Ausser Samstags, damit keine Standschäden entstehen», sagt Schmidt. Und natürlich wenn es im Tunnel zu einem Brand kommt.

Immer tiefer rein

Über unzählige, blaue Metalltreppen dringen wir tiefer ins ominöse Reich der Autobahnbelüftung ein. Weit unten angekommen, eröffnet sich ein düsterer Anblick. Die Wände sind unverputzt und der blanke Beton wirkt kalt und abweisend. Dicke Kabel schlängeln sich von der Decke über den Boden, versehen sind sie mit einem grossen, gelben Schild dessen Aufschrift «Hochspannung. Vorsicht. Lebensgefahr!» nichts Gutes verheissen mag. «Die St.Galler Stadtwerke nutzen den Tunnel, um ihre Starkstromleitungen durch die Stadt zu ziehen», erklärt Daniel Schmidt. Es riecht nach Beton, Staub und Abgasen.

Das Herzstück

Durch eine vergleichsweise winzige Türe gelangen wir in den Frischluftkanal des Rosenbergtunnels. Die «Heiligen Hallen», wie Schmidt es nennt. Hier fühlt man sich vage an einen James Bond Film erinnert. Ein geheimer Stollen, der sich unter der Stadt verbirgt. Nur den Wenigsten wird Einlass gewährt.

Der Fluchtstollen

Nach einigen Minuten Fussmarsch befindet sich linkerhand eine kleine Tür, welche durch ein grosses Rohr praktisch gänzlich versperrt ist. Die Türe ist kaum zu erkennen und wäre von unaufmerksamen Personen übersehen worden. Schmidt zückt einen Schlüssel und entsperrt die Türe. Dahinter öffnet sich ein kleiner Raum, welcher abgesehen von einer Leiter in der Mitte kaum interessant zu sein scheint. Schmidt erklimmt die Leiter und bedeutet uns mit einem Nicken, ihm zu folgen.

Der folgende Raum sieht aus wie ein kleiner Flugzeughangar aus Beton und stellt sich als Fluchtstollen heraus. Auf beiden Seiten stehen grosse Schiebetüren, dahinter das Rauschen der Fahrzeuge in den beiden Autobahnröhren. Der Fluchtstollen verbindet die beiden Autobahnröhren miteinander. Geschieht ein Unfall in der einen Röhre, wird der Stollen geöffnet. Die Flüchtenden gelangen so in die andere Röhre, welche gesperrt wird. Schmidt stellt sich an die Angel der grossen Metalltüre und zieht sie mit einem Ruck auf.

Heftiger Fahrtwind schlägt uns entgegen. Die Autos und Lastwagen fahren so dicht an der Wand entlang, dass man sie fast anfassen kann. Obwohl der Verkehr im Tunnel mit 80 bis 100 Kilometern pro Stunde vorbeibraust, scheint es, als wären die Autos viel schneller. Busse und Lastwagen brettern mit unvorstellbarer Gewalt nur Zentimeter an uns vorbei. Bei den Foto- und Dreharbeiten auf dem winzigen Trottoir werden wir von Daniel Schmidt an der Schulter festgehalten. Zu gross ist die Gefahr, die Balance zu verlieren. Die Vorstellung lässt einen schaudern. Daniel Schmidt wird nachdenklich: «Der letzte Todesfall eines Mitarbeiters ist zum Glück schon über 20 Jahre her. Wir alle sind uns der Gefahr aber tagtäglich bewusst.»

 

«Einen wachen Kopf und den Schutzengel. Das muss jeder von uns morgens mit zur Arbeit nehmen.»

Daher sei es extrem wichtig, dass jeder Mitarbeiter des NSGVI einen wachen Kopf hat. Doch der Kopf allein reicht oft nicht. Auch der Schutzengel muss jederzeit mit dabei sein. Manchmal dauere der Aufbau des Sicherheitsperimeters deutlich länger als die eigentliche Arbeit, die an einer gefährlichen Stelle ansteht. Das sei gut so, sagt Schmidt: «Die Sicherheit hat bei uns immer höchste Priorität. Immer.»

Zurück in der gemütlichen Gruft

Im Vergleich zum Fluchtstollen wirkt der Frischluftkanal nun geradezu heimelig. Wir machen uns weiter auf dem schier endlosen Weg in Richtung Ausgang. Eine gute Viertelstunde später kommen wir bei einer kleinen Türe an und erblicken ein Fahrrad. «Dieses Velo brauchen wir jeweils, um schnell von der einen Schaltzentrale zur anderen zu kommen.» Der Marsch zwischen Olma-Gelände und Hätterenwald dauert knapp zwanzig Minuten. Schneller ist man nur mit dem Velo.

Der Verkehr inmitten der Natur

Über verschiedene Treppen erklimmen wir den Schacht in Richtung Ausgang. Oben angekommen, bietet sich uns ein bizarres Bild. Inmitten von Wald, Wiesen und Gras erblicken wir das erste Mal seit knapp zwei Stunden wieder Tageslicht. Ein paar Meter unter uns braust der Verkehr aus dem Berg. «Ich geniesse dieses Gefühl», sagt Daniel Schmidt. Den streng riechenden Untergrund hinter sich zu lassen und nach langer Zeit wieder einmal frische Luft zu schnappen. Und das ausgerechnet inmitten der Natur, lacht Schmidt: «Ich mag die Vorstellung, dass sich ausgerechnet hier, beim Tunneleingang Fuchs und Hase gute Nacht sagen.»

FM1Today

veröffentlicht: 19. Dezember 2016 05:29
aktualisiert: 19. Dezember 2016 14:45
Quelle: saz

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