«Ein Gebiet weg von der Zivilisation»

08.12.2016, 11:16 Uhr
· Online seit 01.12.2016, 06:22 Uhr
Bei uns gibt es einen Adventskalender der speziellen Art: Auch wir öffnen im Dezember Türen, aber solche, hinter die man eigentlich nicht - oder nicht mehr - schauen kann. Heute gewährt uns Paul Gantner einen Einblick ins stillgelegte Bergwerk Lochezen bei Walenstadt.
Laurien Gschwend
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Bereits als Paul Gantner ein kleiner Junge war, interessierte ihn die Industriegeschichte. Regelmässig fuhr er mit seiner Familie aus der Region Zürich in die Flumserberge. «Beim Walensee entdeckten wir das stillgelegte Bergwerk Lochezen», erzählt er. Ein Förderband, das in den Berg führte, ein Steinhaus, das oben an einem Felsen klebte, eine Fabrik mit rauchenden Kaminen: Der verlassene Stollen in der Nähe von Walenstadt reizte Gantner schon als Bub.

Samichlaus im Lochezen?

«Für uns war das Bergwerk eine Art Mysterium, wir wussten nicht, was sich darin verbarg.» Manchmal habe er sogar gedacht, der Samichlaus lebe im Lochezen. Dass man genau wusste, dass man die unterirdischen Räume nicht betreten dürfe, habe die Spannung erhöht.

Später zog Gantner nach Walenstadt, wo er während vielen Jahren Sekundarschüler unterrichtete. Da erfüllte er sich seinen Jugendtraum: «Ich entschloss mich, runterzusteigen und zu schauen, was da los ist.» Zu sehen, was sich unter dem Berg versteckt, sei überwältigend gewesen. «Bis heute habe ich nicht alles erkundet. So viel verrate ich aber: Man findet Ruinen, die an Pfahlbauten erinnern, Steinsäulen, Baracken und ein altes Militärspital aus dem zweiten Weltkrieg.»

Ein Hobby für den Rest des Lebens

Mittlerweile war der Pensionist 40 bis 50 Mal im Lochezen, jedoch nie alleine. Dies sei beklemmend und gefährlich zugleich - falls es einen Steinrutsch gibt oder einem das Licht ausgeht. Mehrere Male ist er mit seinen Schülern oder mit Verwandten in den Berg gestiegen. «Bereits beim ersten Mal wusste ich: Das ist ein Hobby für den Rest meines Lebens.»

Das Bergwerk gehörte früher der Borner AG. «Offenbar hat die Firma im Stollen Kalk gewonnen», erzählt Gantner. Man finde heute niemanden mehr, der zu Bedingungen, unter welchen die Angestellten früher schufteten, arbeiten würde. «Heute wäre das moderner Sklavenhandel.» Der pensionierte Seklehrer erzählt, es sei immer beruhigend gewesen, runterzusteigen - und gleichzeitig zu wissen, dass man gut ausgerüstet sei und jederzeit zu einer heissen Ovomaltine heimkehren könne.

Ein Ort mit eigenen Gesetzen

Im verlassenen Stollen hat Gantner viel erlebt. «Als ich einmal an einem Nachmittag mit meiner Klasse da war, bin ich auf eine Gruppe Jugendlicher gestossen, die nicht mehr rausfanden.» Auch Mutproben und Pfadi-Taufen habe es im Lochezen gegeben. «Es ist einfach ein Gebiet weg von der Zivilisation - mit eigenen Gesetzen und Erlebnissen», sagt der Pensionist begeistert, «man kommt einfach nicht mehr davon los.»

Immer wieder seien Gerüchte rund um das Bergwerk herumgegeistert. «Jemand dachte, man habe früher Skelette eingemauert.» Andere seien überzeugt gewesen, vom Stollen aus führe ein direkter Gang in ein Sanatorium. «Bis heute bleiben grosse Geheimnisse, genau das fasziniert mich», sagt der ehemalige Sekundarlehrer.

Keine Ermutigung, Bergwerk zu erkunden

Paul Gantner wünscht sich, dass niemand das stillgelegte Bergwerk vergisst. «Deshalb habe ich eine Webseite eingerichtet, auf der ich über meine Erkundungen berichte und Fotos hochlade.» Gleichzeitig müsse er die Leute davor warnen, auf eigene Faust das Bergwerk zu betreten, schliesslich sei dies verboten. Man könne die mysteriöse Höhle lediglich im Rahmen einer Führung der Ortsgemeinde erkunden.

«Manche denken, ich sei der Chef der Höhle», sagt Gantner und lacht. Freude habe niemand, wenn er den Lochezen verbotenerweise unsicher mache. «Allerdings habe ich noch nie davon gehört, dass jemand eine Busse bekommen hat, weil er das Bergwerk betreten hat.»

Am 2. Dezember öffnen wir die nächste Türe. Jene eines verlassenes Hauses. Dieses soll aber bald in neuem Glanz erstrahlen.

FM1Today

veröffentlicht: 1. Dezember 2016 06:22
aktualisiert: 8. Dezember 2016 11:16

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