Im Thurgau werden zu wenig Französischlehrer ausgebildet

· Online seit 31.12.2017, 10:06 Uhr
Der Anteil angehender Primarlehrerinnen, die Französisch unterrichten wollen, ist im Thurgau deutlich zurückgegangen. Grund dafür ist die Diskussion um die Abschaffung des Frühfranzösisch. Die Auswirkungen könnten sich im kommenden Sommer zeigen.
Stephanie Martina
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Tobias Hänni/Ostschweiz am Sonntag

Mit einem äusserst knappen Entscheid wurde im Thurgau die Debatte über das Frühfranzösisch vor einem halben Jahr beendet. Mit zwei Stimmen Unterschied entschied das Kantonsparlament damals, dass auf Primarstufe weiterhin Französisch unterrichtet werden soll. Politisch ist das Thema damit vorerst vom Tisch. Doch für die Schulen wirkt der über Jahre geführte Sprachenstreit nach. «Es war schon zuvor schwierig, Französischlehrer zu finden. Doch die Diskussion über das Frühfranzösisch hat die Situation noch verschärft», sagt Thomas Minder. Für den Präsidenten des Thurgauer Schulleiterverbands ist klar: Die Debatte hat im Kanton dazu geführt, dass Primarlehrerinnen und -lehrer in ihrer Ausbildung darauf verzichtet haben, Französisch als Fremdsprache zu wählen. «Sie wollten es nicht riskieren, ein Fach zu studieren, das sie möglicherweise gar nie hätten unterrichten können.»

Von einem Drittel auf ein Zehntel

Tatsächlich ist an der Pädagogischen Hochschule (PH) Thurgau der Anteil angehender Primarlehrer, die sich im zweiten Studienjahr für Französisch als Fremdsprache entschieden haben, deutlich zurückgegangen. «Beim jüngsten Jahrgang beträgt er noch 11 Prozent», sagt Matthias Begemann, Prorektor Lehre der PH Thurgau. Im Jahr zuvor seien es 20 Prozent gewesen. «Normalerweise entscheiden sich etwa 30 bis 40 Prozent der angehenden Primarlehrpersonen für Französisch, mit leicht abnehmender Tendenz», sagt Begemann. Er führt den markanten Rückgang auf die Frühfranzösisch-Debatte zurück, sagt aber auch: «Mit deren Ende erwarten wir, dass Französisch in der Gunst der Studierenden wieder steigt.»

Dass sich der zwischenzeitliche Rückgang der Französisch-Studierenden bei den Schulen bereits bemerkbar gemacht hat, bezweifelt Begemann jedoch. «Die beiden betroffenen Jahrgänge schliessen erst 2018 respektive 2019 ab.» Der Mangel werde sich also frühestens im kommenden Sommer bemerkbar machen. Um ihn aufzufangen, bietet die PH Thurgau ab dem Studienjahr 2018 eine separate «Facherweiterung Französisch» an. «Diese Nachqualifikation war bislang nur als Teil der regulären Semesterveranstaltungen möglich», sagt Begemann. Die neu konzipierte Weiterbildung finde dagegen in Abendkursen statt, was sie für Lehrerinnen und Lehrer attraktiver mache. «Sie können die Lehrbefähigung für den Französischunterricht damit einfacher berufsbegleitend erwerben.»

Spezifische Stellenprofile schränken Auswahl ein

Keine Spuren hinterlassen hat der Sprachenstreit an der PH St.Gallen. «Das Interesse am Französisch als Fremdsprache ist nach wie vor gross», sagt Christian Thommen, Studienbereichsleiter Sprachen für die Kindergarten- und Primarstufe. Die Zahl der Studierenden mit einer Doppelqualifikation für Englisch und Französisch nehme sogar leicht zu.

Thommen ist noch nie auf einen Mangel an Lehrpersonen für den Französischunterricht angesprochen worden. «Wir erhalten von den Schulen keine Klagen, dass es zu wenig Lehrer für das Fach gibt.» Im Überfluss scheint es sie allerdings auch im Kanton St.Gallen nicht zu geben.

«Es ist schwierig geworden, Lehrkräfte für das Fach zu finden», sagt Luca Eberle, Leiter der Oberstufe Rain in Rapperswil-Jona. Kürzlich habe er eine andere Rapperswiler Schule bei der Suche nach einem Französischlehrer begleitet. «Die Zahl der Bewerbungen war extrem klein.» Letztlich hätten gerade einmal zwei Personen dem Stellenprofil entsprochen, zu dem auch der Deutschunterricht gehört. Auch an Eberles Schule ging im Sommer ein Französischlehrer in Pension, die Suche nach einem Ersatz erübrigte sich hier allerdings. «Wir konnten den Weggang mit der Rückkehr einer Lehrperson kompensieren, die zuvor ein Jahr lang unbezahlten Urlaub hatte.» Eine Luxuslösung, auf die längst nicht jede Schule zurückgreifen könne. Die meisten müssen eine neue Lehrperson suchen – für den Französischunterricht eine Herausforderung. «Französisch gehört zu den Fächern, die am schwersten zu besetzen sind», sagt auch Thomas Rüegg vom Verband der St. Galler Volksschulträger. Zumal die Schule bei einem Weggang meistens eine Lehrperson finden müsse, die nicht nur Französisch, sondern auch andere Fächer unterrichten könne. «Das führt zu sehr spezifischen Stellenprofilen, was die Auswahl an passenden Bewerbern einschränkt», erklärt Rüegg.

Vor der Bologna-Reform sei die Ausbildung von Oberstufenlehrern mit einer sprachlich-historischen (Phil I) und einer naturwissenschaftlich-mathematischen (Phil II) Ausrichtung standardisiert gewesen – was auch die Suche nach passenden Lehrkräften vereinfacht habe. «Nach dem Weggang eines Phil-I-Lehrers konnte dieser durch eine Lehrperson mit derselben Ausrichtung ersetzt werden», sagt Thomas Rüegg. Heute könnten angehende Lehrerinnen und Lehrer ihre Ausbildung viel freier zusammenstellen. «Das hat zur Folge, dass es für eine Stelle weniger passende Bewerberinnen und Bewerber gibt.»

Sind 30 Prozent der Lehrer fachfremd?

Dass die Schulen bei der Neubesetzung einer Stelle keine grosse Auswahl haben, führe zunehmend zu einem «qualitativen Lehrermangel», kritisierte der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) kürzlich im «Beobachter». 20 bis 30 Prozent der Lehrpersonen unterrichteten derzeit auf der falschen Stufe oder ein Fach, für das sie nicht ausgebildet seien, wird LCH-Zentralsekretärin Franziska Peterhans zitiert. Ganz so dramatisch schätzt Thomas Rüegg die Situation für den Kanton St.Gallen nicht ein. Auf der Oberstufe gebe es zwar «vereinzelt» Lehrpersonen, die Fächer unterrichteten, für die sie die Lehrbefähigung nicht haben. «Für die Primarstufe finden sich dank der Allrounder-Ausbildung hingegen immer genügend Lehrpersonen, die auf das jeweilige Stellenprofil passen.» Auch stufenfremde Lehrer kommen laut Rüegg im Kanton St.Gallen «eher selten» vor.

Patrick Keller, Präsident des St.Galler Lehrerinnen- und Lehrerverbands, beurteilt die Lage ähnlich. Er habe dazu zwar keine Zahlen, «aber ich gehe davon aus, dass die vom nationalen Dachverband genannten auf St.Gallen nicht zutreffen.» Es komme zwar unbestritten vor, dass Lehrkräfte ein Fach unterrichteten, für welches sie nicht ausgebildet seien. «Eine solche Lösung entsteht aus der Not. Sie ist besser, als gar keine Lehrperson zu haben.» Keller findet es auch nicht in jedem Fall eine schlechte Lösung. «Fachfremde Lehrer geben sich meistens wahnsinnig Mühe, den Unterricht gut zu gestalten», sagt der stellvertretende Schulleiter der Gaiserwalder Oberstufe.

Das Bildungsdepartement des Kantons St.Gallen bestätigt die Einschätzung der Verbände. Der qualitative Lehrermangel sei «nicht verbreitet», schreibt Generalsekretär Jürg Raschle auf Anfrage. Auf Kindergarten-, Primar- und Oberstufe besitzen gemäss Kanton derzeit 95 Prozent der Lehrpersonen ein stufengerechtes Diplom. Ausnahmen sind die Reallehrer (rund 92 Prozent) und die Schulische Heilpädagogik (knapp 81 Prozent). Gegen den Mangel an Heilpädagogen, auf den auch die Verbände hinweisen, werden laut Raschle «verstärkte Anstrengungen unternommen». So soll die an der PH St.Gallen bislang mit Unterbrüchen durchgeführte Ausbildung im Jahresrhythmus angeboten werden.

Dieser Artikel erschien am 31. Dezember 2017 in der «Ostschweiz am Sonntag»

veröffentlicht: 31. Dezember 2017 10:06
aktualisiert: 31. Dezember 2017 10:06

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