«Ich fand im Iran ein Stück Appenzell»
47'000 Kilometer hat Martin Ruggle hinter sich, noch 8000 fehlen ihm, bis er wieder in der Schweiz ist. Der 33-Jährige hat sich mit seinem Velo, das mit Gepäck etwa 60 Kilogramm wiegt, auf die grösste und längste Reise seines Lebens gemacht. Seine letzte Zwischenstation war Ushuaia am südlichsten Zipfel von Argentinien.
Die Welt erleben
«Ich wollte schon immer die Welt sehen und wissen, was da draussen läuft», sagt Martin Ruggle gegenüber FM1Today. Sein Ziel: fremde Kulturen kennen lernen und andere Formen des täglichen Zusammenlebens sehen und erleben. «Ich habe mich oft gefragt, ob die Leistungsgesellschaft, in der wir leben, alles ist, was es gibt. Dafür muss ich reisen.»
«Ein Monat in der Schweiz ist teurer, als ein Jahr reisen»
Bevor der gelernte Velomechaniker seine Reise angetreten hat, arbeitete er als Bikeguide und im Marketing einer grossen Firma. Gestartet ist er am 21. Mai 2016, also vor genau drei Jahren. «Wie man sieht, bin ich immer noch unterwegs. Diese Art von Reisen, mein Nomadenleben, möchte ich so schnell nicht aufgeben und solange es geht, fahre ich weiter.» Der Abenteurer braucht keine Hotels und Restaurants. Übernachtet wird zumeist im Zelt und auch den Proviant hat er immer dabei. «Ich habe in der Schweiz in teuren Monaten mehr ausgegeben, als in einem Jahr auf Reisen.» Auf seiner Weltreise braucht der genügsame Gossauer etwa sechs bis sieben Dollar pro Tag.
Ein bisschen Heimat im Iran
Der Iran hat bei Ruggle einen bleibenden Eindruck hinterlassen: «Das gastfreundlichste Land, das ich bereist habe.» Er schwärmt: «Eines Abends wurde ich von einem armen Ziegenbauern zum Essen eingeladen. Der Mann hatte eine einfache Hütte mit einem Raum. Sein ganzer Besitz waren zwei Matratzen, ein Ofen, ein Schrank, ein Fernseher und ein Bild an der Wand.»
Unterhalten hätten sie sich mit Händen und Füssen. «Der Bauer hat mich gefragt, woher ich komme. Aber wie erklärt man das in Zeichensprache? Dann fiel mir plötzlich das Bild vom Appenzellerland auf, das an seiner Wand hing. Ich konnte es kaum glauben, zeigte darauf und sagte ‹Home, home›.» Es schien, als sei das Appenzellerland der Traum von jedem iranischen Bauern: grüne Wiesen, sanfte Hügel, gut genährte Kühe, schneebedeckte Berge und schöne Häuser.
Mit dem Helikopter ins Spital
Bei einer zurückgelegten Distanz von 47'000 Kilometer verwundert es nicht, dass Martin Ruggle auch schon einiges einstecken musste. Der schwerste Zwischenfall ereignete sich aber kurioserweise nicht mit dem Velo. «Im Iran waren wir mit einer Reisegruppe auf dem Weg in die Wüste. Unser Auto überschlug sich mehrmals. Ich hatte üble Wunden und viel Blut verloren. Das war ein schlimmer Moment. Zum Glück hat uns das Militär mit einem Helikopter aus der Wüste ins Spital geflogen.»
«Das Militär schoss auf die Bevölkerung»
Ans Aufgeben hat der Gossauer trotzdem nie gedacht. «Es gab Situationen, die kompliziert waren und in denen ich nicht weiter gewusst habe.» Zum Beispiel als Ruggle 2016 in Istanbul war und nur wenige Meter von seinem Hostel der Militärputsch stattfand. «Das war eine extreme Erfahrung. Ich war in einem Raum eingeschlossen und draussen schoss das Militär auf die Bevölkerung. Es gab Explosionen und ich war mittendrin.» Sein Gedanke: Wie komme ich nur aus diesem Land raus? «Es ist dann alles nochmals gut gegangen und ich war noch weitere zwei Monate in der Türkei unterwegs.»
Auch sein Velo hat einiges mitgemacht: «Einmal hatte es einen Rahmenbruch, das war das schwerwiegendste. Alle anderen Pannen waren Kleinigkeiten. Repariert habe ich immer alles selber», sagt der gelernte Velomechaniker.
Die Routen von Martin Ruggle:
Von Mönchen das Durchhalten gelernt
Doch woher nimmt man die Kraft, drei Jahre auf dem Velosattel zu verbringen und so Einschneidendes zu erleben, wie einen Bürgerkrieg oder einen schweren Unfall in der Wüste? «Ich habe in Südostasien oft in Tempeln geschlafen. Da kann man am Abend mit den Mönchen Zeit verbringen und ihre Rituale mitmachen. Ein Geistlicher sagte zu mir: ‹Nichts ist beständig, alles kommt und geht und es gibt immer eine Lösung. Auch schlechte Zeiten kommen und gehen.› Wenn es auf der Reise schwierig wird, denke ich an seine Worte.»
Im Oktober wieder zu Hause
Mittlerweile hat Ruggle Südamerika mit dem Flieger in Richtung London verlassen. Von dort radelt er über 3'500 Kilometer ans Nordkap, dann über Finnland, das Baltikum und das östliche Mitteleuropa zurück in seine Heimat, die er seit über drei Jahren nicht mehr gesehen hat. «Etwa im Oktober sollte ich wieder in Gossau sein.»
Diese Route hat Ruggle noch vor sich: