Interview

«Ein atypischer Fall» – das sagt ein Experte zur Gewalttat in Rapperswil-Jona

19.10.2021, 21:43 Uhr
· Online seit 19.10.2021, 20:54 Uhr
In einem Einfamilienhaus in Rapperswil-Jona haben Rettungskräfte am Montag einen 54-jährigen Schweizer und seine zwölfjährige Tochter tot aufgefunden. Der forensische Psychiater Thomas Knecht erklärt, weshalb dieser Fall so ungewöhnlich ist.
Interview: Marc Sieger, TVO

Quelle: CH Media Video Unit / TVO / Melissa Schumacher

Anzeige

Ein Vater tötet mutmasslich seine 12-jährige Tochter und anschliessend sich selbst, so geschehen am Montag in Rapperwil-Jona. Weshalb es zu einer so ungewöhnlichen Tat kam, ist weiterhin unklar. Die Mutter und eine weitere Tochter waren zum Zeitpunkt des Geschehens nicht im Haus.

Thomas Knecht ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie forensischer Psychiater im Psychiatrischen Zentrum in Herisau im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Im Interview mit TVO äussert er sich zur Gewalttat in Rapperswil-Jona.

TVO: Wie kann es sein, dass ein Vater sein eigenes Kind tötet?

Thomas Knecht: Es braucht eine enorme innere Anstrengung, um die angeborene Tötungshemmung zu überwinden. Insbesondere auch gegenüber dem eigenen Fleisch und Blut, wo diese Hemmung noch grösser ist. Diese ist umso stärker, je älter das Kind schon ist.

Da müssen sehr starke Kräfte am Werk sein, damit dies überhaupt möglich ist. Und die Frage bleibt offen, waren das reale Probleme, die den Mann angetrieben haben oder hatte sich in seiner Psyche etwas Pathologisches aufgebaut, dass von der Aussenwelt nicht bemerkt worden war?

Die Mutter und eine ältere Tochter waren nicht zu Hause als es zur Tat kam. War das eher Zufall oder Kalkül?

Es ist auf jeden Fall atypisch. Wenn ein Vater seine Familie auslöscht, dann tötet er in der Regel seine Frau und alle Kinder. Bei der Frau ist es in der Regel so, dass sie nur den Mann zurücklässt.

Vorläufig ist es für mich noch offen, ob es durch äussere Umstände dazu kam oder ob die Beziehungskonstellation in dieser Familie dazu führte, dass diese Tochter im Fokus stand.

Wieso könnte das so sein?

Es kann sein, dass die Tochter die Eltern völlig überfordert hat. Was aber auch infrage kommt, ist das seltene Medea-Syndrom. Hier tötet ein Partner ein Kind, um so seine Partnerin indirekt zu bestrafen. Ein Racheakt, um den Partner besonders hart zu treffen, weil man weiss, dieser liebt das Kind besonders. Es ist eine besonders grausame Revanche.

Die Mutter und die Tochter bleiben zurück. Wie können die beiden diese Tat jemals verkraften?

Das ist psychologisch gesehen eine Herkules-Aufgabe. Die beiden leben jetzt in einer ganz neuen Lebenssituation, in der  sie sich zurechtfinden müssen. Und dazu kommt die Verarbeitung dieses Unfassbaren, das hinter ihnen liegt. Dazu könnte noch die sogenannte Überlebensschuld kommen, bei der man das eigene Überleben als Ungerechtigkeit auffasst, auch diese muss bewältigt werden.

veröffentlicht: 19. Oktober 2021 20:54
aktualisiert: 19. Oktober 2021 21:43
Quelle: FM1Today

Anzeige
Anzeige