Graubünden

«Das ist ein heftiger Schlag für uns»

29.08.2019, 06:17 Uhr
· Online seit 27.08.2019, 05:41 Uhr
Der Bündner Jürg Eggenberger leidet unter einer unheilbaren und seltenen Muskelkrankheit. Hilfe verspricht einzig eine teure Therapie, welche die Krankheit nicht weiter fortschreiten lässt. Aber die Krankenkasse trägt die Kosten dafür nicht.
Dario Brazerol
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Abenteuer auf dem Spielplatz, Wanderungen in den Bündner Bergen. Lina, Levin und Lorena, alle im Alter zwischen fünf und elf Jahren, wünschen sich dies von ihrem Vater. Jürg Eggenberger ist 54 Jahre alt, lebt in Rothenbrunnen und verdient sein Geld als Lastwagenchauffeur. Dies zumindest, bis er Mitte 2018 die Schockdiagnose bekam: Einschlusskörpermyositis. Angefangen bei Händen und Füssen, schleicht die muskellähmende Krankheit weiter in Richtung Rumpf. Ohne eine Behandlung wird Eggenberger schon bald im Rollstuhl sitzen, ein Pflegefall werden.

Keine Heilung für die Krankheit

«Die Diagnose ist für uns noch immer schwer zu fassen», sagt Jürg Eggenbergers 28-jährige Tochter Cattia Roduner. «Zuerst dachten wir, Papa leide vielleicht an MS oder ALS. Jetzt leben wir mit einer Krankheit, deren Namen wir erst lernen mussten.» Zunächst hatte die Familie gehofft, die Krankheit sei heilbar. Nachdem die erste Therapie nicht anschlug, wurde aber klar, dass es für diese Form der Muskelerkrankung keine Heilung gibt.

«Ein Facharzt des Kantonsspitals St.Gallen hat uns nach der Diagnose eine andere Therapie vorgeschlagen, welche aus menschlichen Antikörpern, sogenannten Immunglobulinen, besteht», sagt Roduner. Der Arzt beantragte diese Therapieform mehrfach bei der Krankenkasse, jedoch wurden alle Anträge abgelehnt. Der behandelnde Mediziner fand allerdings nach diversen Anfragen einen Hersteller des Medikaments, welcher dieses für die Erstbehandlung sowie drei Folgebehandlungen zu Kosten von mehreren zehntausend Franken zur Verfügung stellte. «Papas Zustand wurde nicht mehr schlechter, gewisse Werte wurden durch die Behandlung sogar besser.»

«Therapieversuch war als Erfolg zu werten»

Christoph Neuwirth, der behandelnde Arzt, bestätigt dies auf Anfrage von FM1Today: «Der Patient zeigte durch die Therapie eine subjektive wie auch objektive Besserung. Die Blutwerte haben sich etwas erholt und er konnte in der Physiotherapie mehr Leistung bringen. Der Therapieversuch war also als Erfolg zu werten, da es nicht zu einer weiteren Verschlechterung, hingegen sogar zu einer leichten Verbesserung kam, was vom unbehandelten Krankheitsverlauf nicht zu erwarten gewesen wäre», sagt der leitende Arzt und stellvertretende Zentrumsleiter des Muskelzentrums/ALS Clinic am Kantonsspital St.Gallen.

Trotzdem lehnte die Krankenkasse eine Kostengutsprache erneut ab. Dies habe seine Gründe, erklärt Patrick Eisenhut, Kommunikationschef der ÖKK: «Uns sind die Hände gebunden. Wir müssen uns an den Artikel 71 der Verordnung über die Krankenversicherungen halten.» Der Artikel 71 regelt die Vergütung von Medikamenten im Einzelfall und von Off-Label-Produkten, also Medikamenten, welche ausserhalb der Fachinformationen von Swissmedic oder ausserhalb der Limitierungen der Spezialitätenliste stehen. Dieser Artikel besagt, dass ein Off-Label-Medikament von der obligatorischen Krankenkasse nur dann gezahlt wird, wenn drei Aspekte erfüllt sind: Erstens muss die Krankheit schwerwiegend bis tödlich sein, zweitens darf es keine alternative Behandlungsart geben und drittens muss von der Therapieform ein hoher Nutzen für den Patienten erwartet werden. Den hohen Nutzen des Medikaments konnte die Krankenkasse in Eggenbergers Fall nicht anerkennen.

«Sind in einem ethischen Dilemma»

«Das Problem bei Jürg Eggenberger ist, dass der grosse therapeutische Nutzen nach vertrauensärztlicher Beurteilung nicht gegeben war. Wir als Krankenkasse sind allerdings an solche Beurteilungen gebunden. Somit sind wir in einem ethischen Dilemma, da uns das Schicksal der Familie sehr nahe geht», sagt Eisenhut. Aufgrunddessen hat sich die ÖKK dazu entschieden, Jürg Eggenberger einen fünfstelligen Betrag aus der Unternehmenskasse zur Verfügung zu stellen. Der Betrag wurde bisher allerdings noch nicht eingelöst, auch weil der Hersteller des Medikaments die Kosten bis anhin übernommen hat.

Arzt Christoph Neuwirth kann die Vorgehensweise der ÖKK teilweise nachvollziehen: «Man muss beide Seiten verstehen. Die Krankenkasse ist prinzipiell gesetzlich dazu verpflichtet, ein Medikament auf die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit zu prüfen, wenn es ausserhalb der zugelassenen Krankheit verwendet werden soll. Ausserdem muss ausreichend belegt werden können, ob es hilft. Gerade bei seltenen Erkrankungen ist dies schwierig. Aber Recht ist nicht immer gerecht.»

«Ziehen rechtliche Schritte in Erwägung»

Für die betroffene Familie ist die Entscheidung trotzdem nur schwer nachvollziehbar: «Das ist ein heftiger Schlag für uns. Wir konnten beweisen, dass sein Zustand sich stabilisiert und doch wurde der Antrag auf das Medikament bei der Krankenkasse abgelehnt. Das ist ein Schock und schwierig zu verdauen», sagt Tochter Cattia Roduner. Die Familie will die Entscheidung nicht auf sich beruhen lassen und zieht nun rechtliche Schritte in Erwägung. Da dies aber einige Zeit in Anspruch nehmen könnte, hat die Familie eine zweite Idee, wie die Behandlung von Papa Jürg finanziert werden kann: Crowdfunding. Seit Anfang August sammelt die Familie Geld, um die Therapie weiter finanzieren zu können, und dies mit Erfolg: Über zehntausend Franken sind seither zusammengekommen.

«Es ist gewaltig, zu sehen, wie sich der Aufruf im Internet verbreitet und die Leute spenden. Zum Teil kommt das Geld von Leuten, die wir gut kennen, zum Teil sind es Leute, deren Namen wir noch nie gelesen haben», freut sich die Tochter. Auch Vater Jürg fiebere beim Crowdfunding mit: «Für mich selbst ist es schon wahnsinnig, dies zu sehen. Für ihn muss es noch viel extremer sein.» Mit den mittlerweile zehntausend Franken kann der nächste Zyklus der Therapie finanziert werden. Das Ziel ist es, die Therapie für mindestens fünf Monate zu verlängern.

Einschlusskörpermyositis
Unter einer Million Menschen erkranken jährlich zwischen zwei bis neun Personen an Einschlusskörpermyositis. Die Krankheit taucht bei Männern doppelt so häufig auf wie bei Frauen. Vorwiegend Männer ab 50 Jahren sind von der Muskelkrankheit betroffen. Eine Therapie, durch welche die Krankheit geheilt werden kann, gibt es bis heute nicht.
veröffentlicht: 27. August 2019 05:41
aktualisiert: 29. August 2019 06:17
Quelle: FM1Today

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