Ostschweiz hilft Ostschweiz

«Kunst erfordert eine Freiheit, die es in der Türkei nicht gibt»

10. Dezember 2022, 11:03 Uhr
Sie ist studierte Theaterkritikerin und Dramaturgin, er ist Schauspieler und Regisseur. Zusammen mussten sie vor zweieinhalb Jahren aus der Türkei in die Schweiz fliehen. Um hier ihre Arbeit fortzusetzen, wollen Yeliz Yilmaz und Ahmet Denizer möglichst schnell Deutsch lernen. «Ostschweiz hilft Ostschweiz» finanziert ihnen deshalb einen Sprachkurs.
Das türkische Ehepaar Yeliz Ylmaz (links) und Ahmet Denizer (rechts) wollen möglichst schnell Deutsch lernen, um ihre Berufe als Theaterschaffende wieder aufzunehmen.
© St.Galler Tagblatt/Arthur Gamsa
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«Ich bin ein grosser Bewunderer der deutschen Literatur», sagt Ahmet Denizer gegenüber dem St.Galler Tablatt, läuft zum Regal, das im Wohnzimmer steht und nimmt sich daraus ein Buch. Es ist Goethes Faust in einem grauen Einband. «Ich konnte es bisher leider nur auf Türkisch lesen», sagt er. «Bald wollen wir aber auch Bücher auf Deutsch lesen. So lernen wir die Sprache hoffentlich schneller», sagt seine Frau Yeliz Ylmaz.

Deutsch sprechen Ylmaz und Denizer nur bruchstückhaft. Dies, obwohl sie schon länger einen Deutschkurs besuchen. Nämlich jenen der Gemeinde Herisau. In diesem werden sie aber zu wenig gefordert, sagen die beiden. Momentan seien es sechs Stunden pro Woche. Für den Inhalt eines einzigen Lernheftes benötige der Kurs damit zirka sechs Monate. «Es geht viel zu langsam vorwärts», sagen Ylmaz und Denizer.

Kunst braucht Freiheit

Das Paar flüchtete vor zweieinhalb Jahren in die Schweiz und muss Sozialhilfe beziehen. Der Wunsch nach einem fordernderen Deutschkurs an der HDS Deutschschule in St.Gallen wurde ihnen von der Gemeinde Herisau verwehrt. «Man sagte uns bei der Beratungsstelle, dass alle gleich behandelt werden müssen.» Ihrem Einwand, für ihre Berufe seien gute Deutschkenntnisse dringend notwendig, entgegnete man den Vorschlag, sich einen anderen Beruf zu suchen. Dies ist aber keine Option für das Paar: «Damit schmeissen wir 15 Jahre Berufserfahrung einfach weg», sagt Denizer.

Vor ihrer Flucht lebten die beiden Kunstschaffenden in Istanbul. Dort wirkten sie an vielen Bühnenstücken mit, leiteten sogar eine eigene Theatergruppe. In der Türkei laufe politisch vieles schief, sagt Denizer. «Wir hängen zwar keiner Partei an, doch wir behandelten in unseren Stücken oft soziale Probleme», sagt Denizer.

Genau dies wurde ihnen zum Verhängnis. Themen wie mangelnde Frauen- oder Arbeitnehmerrechte auf der Bühne offen zu benennen, brachte Denizer und Ylmaz nämlich in Konflikt mit der Polizei. Erst sei den beiden verboten worden, weiter Stücke aufzuführen, später sei er sogar verhaftet worden und kurzzeitig im Gefängnis gelandet. «Ich bin Kurde, Sozialist und Atheist. Alles Dinge, die dem türkischen Präsidenten nicht gefallen», sagt Denizer. Nach seiner Freilassung seien sie sofort in die Schweiz geflüchtet. Kunst erfordere Freiheit, sagt Ylmaz. «Und in der Türkei ist es nicht möglich, frei Kunst zu machen.»

Erst Sprache lernen, dann Master nachholen

Hier möchten sie ihre Tätigkeit als Theaterschaffende möglichst bald wieder aufnehmen. «Ich lebe jetzt in der Schweiz. Und ich möchte das Theater in dem Land, in dem ich lebe weiterentwickeln», sagt Ylmaz. Dazu gehöre als allererstes, sich die Sprache anzueignen. Sei dies geschafft wolle sie, die an der Universität Istanbul den Bachelor in Theaterkritik und Dramaturgie absolvierte, den Master machen.

«Gerne würden wir unser altes Leben in der Schweiz fortsetzen und auch andere Menschen für das Theater begeistern», sagt sie. Die beiden könnten sich auch vorstellen, wieder als Theaterpädagogin, beziehungsweise -pädagoge zu arbeiten, wie sie es in der Türkei gemacht hatten. «Es gibt sehr viele Ideen, die wir möglichst bald umsetzen wollen.»

Weiter sei es ihnen wichtig, niemandem mehr zur Last zu fallen. «Wenn wir einen Termin bei der Gemeinde oder beim Arzt haben, müssen wir Leute aus unserem Umfeld fragen, ob sie mitkommen können», sagt Denizer. Schon oft sei es vorgekommen, dass niemand für sie Zeit hatte. «Dann ist es sehr unangenehm für mich, wenn ich dem Arzt zuhöre und kein Wort verstehe», sagt Denizer. «Deshalb müssen wir möglichst schnell Deutsch lernen», so Ylmaz.

Die dafür nötigen Sprachkenntnisse sind im Deutschkurs des HDS in St.Gallen zu erlangen. Zusammen mit der Evangelischen Frauenhilfe übernimmt OhO die Kosten des zweieinhalb Monate langen Kurses. «Dank der finanziellen Hilfe können wir deutlich mehr Stunden nehmen als vorher», sagt Ylmaz. Ausserdem sei der Unterricht am HDS um einiges intensiver, wovon sich die beiden einen besseren Lernfortschritt versprechen.

Es ist ein ehrgeiziges Ziel, zumal dies nicht die einzige Herausforderung ist, die Ylmaz und Denizer in den kommenden Monaten zu stemmen haben. Vergangenen Freitag sind die beiden nämlich Eltern geworden. Rosa, heisst ihre eine Woche alte Tochter.

«Wir haben zwar ein wenig Angst, dass die Zeit nicht ausreicht, um ein gutes Sprachniveau zu erreichen», sagt die frischgebackene Mutter Yeliz Ylmaz. Doch gleichzeitig sei die Geburt ihrer Tochter ein zusätzlicher Antrieb, in ihrer neuen Heimat möglichst schnell Fuss zu fassen.

Quelle: St.Galler Tagblatt/Luca Hochreutener
veröffentlicht: 10. Dezember 2022 11:03
aktualisiert: 10. Dezember 2022 11:03
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