Leben ohne Treppenhaus

04.01.2017, 16:52 Uhr
· Online seit 04.01.2017, 16:49 Uhr
Gestern noch ging das Leben an der Oberwiesenstrasse 55 in Frauenfeld seinen normalen Gang. Doch dann gab es einen riesen Knall und innert Sekunden stürzte die Treppe des Wohnhauses ein. Eine schlaflose Nacht später sitzt der Schock bei den Bewohnern noch immer tief.
Stephanie Martina
Anzeige

«Kurz nach 16 Uhr hörte ich einen lauten Knall. Ich dachte sofort, dass da irgendetwas eingestürzt sein muss, nur dachte ich eben nicht, dass es unser Haus sein könnte. Ich dachte, das kann nur das Nachbargebäude sein. Doch dann schaute ich aus dem Fenster und sah, dass das ganze Treppenhaus direkt neben meiner Wohnung eingestürzt ist», erzählt Georgette Gallo, die im zweiten Stock lebt. Auch ihre Nachbarn hätten die Köpfe aus dem Fenster gestreckt, um zu sehen, was den lauten Knall ausgelöst haben könnte.

«Ich habe dann im Schockzustand sofort die Verwaltung und die Hauswartin informiert. Mein Herz schlug wie wild und ich zitterte am ganzen Körper», sagt die 47-Jährige. Sie habe sich dann einen kleinen Sekt genehmigt, um ihre Nerven zu beruhigen. «Ich wusste, dass das Treppenhaus nicht mehr das neuste ist, aber dass es gleich in sich zusammenfallen würde, hätte ich nie gedacht. Im ersten Moment dachte ich, dass der Terror nun auch bei uns angekommen ist und vielleicht jemand die Treppe gesprengt haben könnte. Heutzutage weiss man ja nie.»

Beim Einsturz der Treppe kam niemand zu Schaden, wie die Kantonspolizei Thurgau auch am nächsten Morgen nochmals bestätigt. Doch manche entkamen den Trümmern der einstürzenden Treppe nur knapp. «Meine Tochter war mit einer Freundin unten auf dem Parkplatz als die Treppe einbrach. Sie konnte sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen. Es ist ein Wunder, dass niemandem etwas passiert ist - vor allem, weil unser Lift seit Monaten defekt ist und wir deshalb alle Tag für Tag die Treppe nutzen mussten», erklärt Georgette Gallo.

Wachsamer Schutzengel

Auch die achtjährige Jara Lalo, die mit ihrer Familie eine Etage höher wohnt, schien einen Schutzengel gehabt zu haben. Sie war am Dienstagnachmittag bei einer Spielkameradin zu Besuch, die gleich nebenan auf der anderen Seite der Treppe wohnt. «Ausnahmsweise ging ich etwas früher nach Hause, weil meine Freundin mit ihrer Mutter in die Stadt musste», erzählt Jara. Zehn Minuten nachdem sie das Treppenhaus überquert habe, habe es laut «Bumm» gemacht und das Treppenhaus lag in Schutt und Asche. «Ich hatte grosse Angst und auch meine Mutter bekam Panik, als wir sahen, warum es so laut geknallt hatte. Ich wusste nicht, ob nun auch die Wand meines Kinderzimmer einstürzen würde, es grenzt ja direkt ans Treppenhaus.»

Kurze Zeit nach dem Knall habe sie gesehen, wie die Bewohner des Hauses an der Oberwiesenstrasse 55 von der Arbeit heimkamen und nicht in ihre Wohnungen gelangen konnten. Alle hätten draussen vor dem Haus gestanden und gefroren - auch ihr Papi. Die Lalos wurden wie ihre Nachbarn mit der Drehleiter aus ihrer Wohnung gebracht. Dann begann das Warten. «Es dauerte etwa zwei Stunden, bis wir wussten, was passieren würde. Dann sagte uns jemand, dass wir - wenn wir möchten - wieder in unsere Wohnungen gehen dürfen. Die Feuerwehr brachte uns dann mit der Leiter wieder in den dritten Stock.»

Aus Spass wird ernst

Doch nicht alle Bewohner entschieden sich, zurück in ihre Wohnungen zu gehen. Benjamin Brahim etwa verbrachte die Nacht bei seinen Eltern - allerdings fand er auch dort keinen Schlaf. «Ich bin eigentlich hart im Nehmen, doch ich muss zugeben, dass ich mir nach diesem Vorfall nicht vorstellen konnte, die Nacht in meiner Wohnung zu verbringen. Ich wohne im ersten Stock und hatte schon etwas Angst, dass mich der Beton der vier Etagen über mir begraben könnte.» Auch einen Tag später fühlt sich der 34-Jährige alles andere als wohl in seinen vier Wänden, zumal auch eine seiner Wände an das eingestürzte Treppenhaus grenzt.

Das Gefühlskarusell drehe sich und er versuche, sich nicht allzu viele Gedanken zu machen. Auch auf die Links zu Newsportalen, die ihm seine Freunde schicken, klickt er bewusst nicht. «Je weniger ich weiss, desto weniger beunruhigt es mich. Und die Statiker sagten uns gestern, dass das Haus sicher ist, allerdings haben sie das auch über die Treppe gesagt. Aber ich denke mir auch immer, dass wir ja in der Schweiz leben und uns die Experten bestimmt nicht in unsere Wohnungen lassen würden, wenn sie nicht sicher wären.»

Ironischerweise habe er vor etwa zwei Wochen mit einem Freund, der sich mit Statik auskenne, darüber gescherzt, dass der Wohnblock wegen der Erschütterungen der Baustellen vor und hinter dem Haus einstürzen könnte. Dass tatsächlich ein Teil des Hauses einstürzen würde, hätte er jedoch nie ernsthaft gedacht.

Schlaflose Nacht

Auch Jara Lalo und Georgette Gallo konnten nicht schlafen, weil draussen bis weit nach Mitternacht ein Treppenprovisorium errichtet wurde. «Es war sehr laut und ich hatte Angst, dass jemand ins Haus kommen konnte, weil wir unten ja keine Haustüre mehr haben. Die ist auch kaputt gegangen», erklärt die Achtjährige. Sie habe sich unter dem Bett versteckt, weil sie sich in ihrem Zimmer, Wand an Wand mit dem ehemaligen Treppenhaus, gefürchtet habe. Schliesslich sei sie zu ihren Eltern ins Bett gekrochen. «Dann hatte ich etwas weniger Angst. Doch ich denke immer wieder daran, dass ich gestern zwei Mal die Treppe hinab und wieder hinauf gegangen bin, weil ich im Schnee gespielt habe. Die Treppe hätte auch genau dann einstürzen können.»

Georgette Gallo, einen Stock tiefer, lag ebenfalls lange wach. «Bis um drei Uhr morgens wurde ein Gerüst errichtet. Wegen des Lärms hatte ich immer wieder das Gefühl, als würde noch mehr einstürzen. Mir war ganz schlecht und ich dachte mir, vielleicht sterben wir jetzt schon. Gleichzeitig habe ich aber gehofft, dass das restliche 2017 nicht im gleichen Stil weitergeht.»

Gerüstebauer unterbrechen Ferien

Gestern Abend wurde mit Edi Schmid von der BHA Team Ingenieure AG ein Spezialist beigezogen, der die Tragfähigkeit des Gebäudes beurteilen sollte und entscheiden, ob das Wohnhaus für die Mieter wieder freigegeben werden kann. Der Ingenieur entschied, dass das Haus selbst nicht einsturzgefährdet ist und dass die 15 Wohnungen wieder beziehbar sind.

Als klar war, dass die Bewohner wieder zurück in ihre Wohnungen können, haben Gerüstebauspezialisten der Firma xBau AG aus Frauenfeld sofort damit begonnen, ein Treppengerüst aufzubauen. «Wir haben eigentlich Betriebsferien, doch als etwa um 16.30 Uhr der Anruf kam, bot ich schnell unser kleines Pikett-Team auf und wir nahmen die Sache mit fünf Arbeitern in Angriff.» Über das Treppenprovisorium haben die Bewohner seit heute wieder Zugang zu ihren Wohnungen.

Suche nach Einsturzursache geht weiter

Die Einsturzursache konnte allerdings bis jetzt noch nicht endgültig geklärt werden. «Da es sich um ein offenstehendes Treppenhaus handelt, das der Witterung ausgesetzt ist, vermuten wir, dass Wasser eintreten konnte und dass die Anschlusseisen gerostet haben. Dadurch, dass es sehr kalt war, ist es möglich, dass es zu einer Sprengung kam», erklärt Jutta Mauderli, Geschäftsleiterin des Immobilienbüros Logis Suisse und Vertreterin der Eigentümerschaft. Heute Morgen sei sie vor Ort gewesen, um sich die eingestürzte Treppe selbst anzusehen und erste Massnahmen in die Wege zu leiten. Als erstes werde dafür gesorgt, dass die Reste der Treppe weggebrochen werden, damit so schnell wie möglich eine neue eingebaut werden könne. «Da es sich bei diesem Haus um einen zweiteiligen, aneinandergebauten Wohnblock handelt, setzen wir vorsichtshalber auch die zweite, identische Treppe nebenan instand», erklärt Jutta Mauderli.

Von einem Versäumnis möchte Jutta Mauderli jedoch nicht sprechen. «Das Gebäude wurde 1972 erbaut, wir haben es 1992 übernommen und im Jahr 2000 eine Totalsanierung durchgeführt. Damals wurde nichts Ungewöhnliches festgestellt. Erst kürzlich wurde zudem das Treppenhaus gestrichen, ebenso wurden die üblichen Unterhaltsarbeiten durchgeführt. Doch auch da haben wir keine Anzeichen gesehen.» Der Statikexperte Edi Schmid kommt zu einem ähnlichen Schluss und will die Schuld nicht auf die Eigentümer abwälzen: «Wenn Eisen im Beton korrodiert, handelt es sich um einen schleichenden Prozess, der von aussen nicht sichtbar sein muss.»

veröffentlicht: 4. Januar 2017 16:49
aktualisiert: 4. Januar 2017 16:52

Anzeige
Anzeige