Zwei Tote

«Lebenssinn ist auf einen Schlag verschwunden» – Psychiater erklärt Bluttat von Hamburg

08.04.2022, 07:19 Uhr
· Online seit 07.04.2022, 21:04 Uhr
Die Bluttat in Hamburg schockiert. Am Dienstagmorgen findet die Polizei die Leichen zweier Ostschweizer. Ein 22-jähriger Thurgauer soll zuerst eine gleichaltrige Frau und dann sich selbst erschossen haben. Wie kommt es zu einer solchen Tat? Psychiater Thomas Knecht von der Klinik für Psychiatrie in Herisau analysiert den Vorfall.

Quelle: tvo

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Herr Knecht, wie kann es sein, dass das Umfeld des mutmasslichen Stalkers von seinen Absichten nichts mitgekriegt hat?
Das ist nicht sehr ungewöhnlich. Täter dieser Art versuchen, möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Ausser natürlich bei ihren Zielpersonen. Aber genau dann, wenn die Beziehung zwischen den beiden einen negativen Touch bekommt, wenn sich diese positiven Gefühle allmählich ins Negative verwandeln, wenn eventuell auch Hass ins Spiel kommt, dann geben die Täter möglichst wenig Signale an die Umwelt ab. Das machen sie, damit sie in diesem Prozess weiter fortschreiten können und nicht von aussen interveniert wird.

Das Opfer studierte schon länger in Hamburg. Der Täter ist absichtlich dorthin gereist und stand mit einer Waffe vor der Haustür. Inwiefern kann man sagen, dass diese Tat geplant war?
Nur schon die Tatsache, dass er eine anstrengende Reise auf sich nimmt, obwohl er von der Frau kein positives Echo erwarten konnte, hat eine gewisse Aussagekraft. Wenn er dann noch mit einer Waffe vor der Türe auftaucht, lässt dies nur noch zwei Interpretationsmöglichkeiten zu: Entweder wollte er sie mittels Waffengewalt zu einer letzten Entscheidung zwingen, hat sich also noch ein kleines Stückchen Hoffnung bewahrt, dass doch noch etwas kommen könnte, oder er hat bereits den Entschluss zu dieser Tötungshandlung getroffen und wollte die Frau nur noch sehen, um diese Exekution durchzuführen.

Gemäss Aussagen der Mutter hat der Täter das Opfer bereits seit neun Monaten gestalkt. Woher kommt so etwas?
Neun Monate klingt nach viel. Das ist aber nur ein knapper Durchschnittswert. Die durchschnittliche Stalking-Affäre dauert ein Jahr und ist gegen oben praktisch offen. Trotzdem ist es für ein Opfer natürlich zermürbend, wenn einem derart nachgestellt wird. Hinzu kommt der steigende Druck und die zunehmend unangenehmen Situationen. Das Ganze läuft dann auf Drohungen, Erpressungsversuche und sogar physische Gewalt hinaus.

Warum denken Menschen, sie könnten andere Menschen «besitzen»?
Dass eine feste Beziehung als eine Art «Besitz» betrachtet wird, ist nicht einmal so exotisch. Das bezeichnende für einen Stalker ist folgendermassen: Jemand, der sich Besitz anmasst, obwohl von der anderen Seite negative Signale kommen. Der Stalker kapiert diese Signale nicht und versteht nicht, dass in diesem Falle nichts zu holen ist. Er hat keine feine Antenne für soziale Signale, die ihm nicht passen, die gegen sein Wunschdenken gehen. Diese Signale werden ausgeblendet oder sogar in eine positive Aufforderung weiterzumachen, umgedeutet.

Der Täter hat erst die Frau erschossen, dann sich selber. Hierbei spricht man von einem erweiterten Suizid. Wie kann es so weit kommen?
Man muss davon ausgehen, dass der Täter sehr radikal geworden ist in seinem Anspruch auf das Opfer. Das heisst, das Opfer hat seine gesamte Existenz erfüllt und alles, was sonst noch eine Rolle spielt, an den Rand gedrängt. Als er dann definitiv realisieren musste, dass aus den beiden nie etwas wird, drohte auf einmal ein riesiges Vakuum. Sein Lebenssinn ist auf einen Schlag verschwunden. Ohne Lebenssinn lebt es sich bekanntlich wirklich schlecht. Die Selbstmordgefährdung wäre damit schon mal erklärt. Auch die Tötung der Frau lässt sich erklären: Der Täter wollte allenfalls den Grund seines sinnlosen Lebens ebenfalls mit in den Tod reissen. Das könnte einerseits aus romantischen Gefühlen geschehen, sodass man im «Tode vereint» ist oder aber auch aus egoistischen Gründen, aus Gründen der «verbrannten Erde» geschehen sein. Der Täter wollte sie nicht zurücklassen, sodass ein anderer Mann von ihr profitieren könnte. Solche Vorstellungsbilder können dann beherrschend werden.

Das Interview führte TVO-Reporterin Sarah Wagner.

(saz)

veröffentlicht: 7. April 2022 21:04
aktualisiert: 8. April 2022 07:19
Quelle: TVO

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