Extrembergsteiger

Michael Wohlleben: «Der Alpstein ist mein zweites Zuhause»

24.10.2021, 06:49 Uhr
· Online seit 24.10.2021, 06:49 Uhr
Die Eiger-Nordwand gehört zu seinem Arbeitsalltag, er hat mit Ueli Steck das Winterbergsteigen revolutioniert und versucht aktuell die schwierigste Alpstein-Route der Geschichte zu erschliessen: Michael Wohlleben mag es extrem. Im Interview spricht der Profikletterer über den Umgang mit dem Risiko und sein Lieblingsgebirge: den Alpstein.

Quelle: FM1Today / zVg

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In der Stube von Michael Wohlleben hängt ein Bild. Dieses Bild könnte nicht besser versinnbildlichen, was für ein Mensch in diesen vier Wänden zu Hause ist. Es ist eine Grossaufnahme der berühmtesten Wand der Alpen: Der Eiger-Nordwand.

«Der Alpstein ist mein zweites Zuhause»

Der Stellenwert der Eiger-Nordwand zeigt sehr gut auf, in welchen Dimensionen sich Wohlleben als Kletterer bewegt. Für die meisten Amateurkletterer ist die Felswand in den Berner Alpen nach wie vor mit dem Nimbus der schier unbezwingbaren Wand, deren Begehung mit grossen Gefahren verbunden ist, belegt. Für Michael Wohlleben jedoch ist die Eiger-Nordwand Teil seines Arbeitsalltags: Wer selbst genug gut klettert, kann Wohlleben als Bergführer buchen, um den Traum von der Bezwingung der berühmtesten Alpenwand wahr werden zu lassen.

Obwohl Wohlleben regelmässig die schwierigsten und prestigeträchtigsten Wände der Alpen bezwingt, fühlt er sich in einem klettertechnisch vergleichsweise wenig spektakulären Gebirge am wohlsten: In unserem Ostschweizer Alpstein. Der 31-jährige Deutsche lebt seit einigen Jahren mit seiner Frau und seinem Sohn in Wolfhalden im Kanton Appenzell Ausserrhoden. «Für mich ist der Alpstein mein zweites Zuhause, es ist für mich jeweils eine Art Heimkommen, wenn ich hier unterwegs bin. Ich kenne die meisten Älpler und gehe gerne mal auf ein Bier vorbei, wenn ich unterwegs bin», sagt er im Gespräch mit FM1Today.

Lieber im Alpstein führen als an der Eiger-Nordwand

So kommt es, dass Wohlleben die Appenzeller Berge gelegentlich den anspruchsvolleren Touren in anderen Teilen der Schweiz und Europas vorzieht, beispielsweise wenn er als Bergführer unterwegs ist. «Im Alpstein kann ich mich ein Stück weit auch entspannen, wenn ich mit Gästen klettere.» Das ist naturgemäss ganz anders, wenn er mit jemandem die gewaltigen Alpen-Nordwände bezwingen will. «Bei den Nordwänden muss der Bergführer viel geben, er setzt sich einer grossen Gefahr und Verantwortung aus.»

Man müsse sich überlegen, ob man lieber sechs Tage in den Alpstein führen gehe oder einmal die Eiger-Nordwand mache. «Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich wohl den Alpstein nehmen. Die finanzielle Entschädigung ist die Gleiche», sagt Wohlleben. Das Schöne an der Nordwand sei aber natürlich, dass man jemandem einen Traum erfüllen könne.

«Man macht etwas, das bleibt»

Wohlleben ist Kletterprofi und kann dank Sponsorenverträgen von seinen sportlichen Leistungen leben, seine Tätigkeit als Bergführer ist lediglich eine Ergänzung zu seinen eigenen Projekten. Sein aktuelles zeigt, dass auch der Alpstein einem alles abfordern kann. Seit mehr als einem Jahr versucht Wohlleben an der Dreifaltigkeit die schwierigste Alpstein-Kletterroute überhaupt zu erschliessen (FM1Today berichtete). Mittlerweile hat er alle Sicherungshaken gesetzt und versucht nun die Route freizuklettern – also die Strecke in einem Stück zurückzulegen. Der Deutsche erklärt: «Schwierige Erstbegehungen sind ein Geduldsspiel. Dafür macht man etwas, das bleibt.»

Sollte Wohlleben die neue Route an der Dreifaltigkeit definitiv erschliessen können, würde er damit für einen bedeutenden Meilenstein sorgen. «Zumindest schweizweit wäre das eine der schwersten Mehrseillängentouren überhaupt.»

Als seine bisher grösste Errungenschaft bezeichnet der Deutsche eine Tour mit dem 2017 verstorbenen Schweizer Extrembergsteiger Ueli Steck. Im Jahr 2014 überquerten die beiden die Drei Zinnen in den Dolomiten via deren Nordwände in einer Rekordzeit von 15 Stunden und 42 Minuten. «Bis zu dem Zeitpunkt haben alle für eine Wand einen ganzen Tag gebraucht – wir haben das Winterbesteigen wohl tatsächlich ein Stück weit revolutioniert.» Im Nachgang zur Leistung von Wohlleben und Steck waren auch andere Bergsteiger plötzlich viel schneller an den Drei Zinnen unterwegs. «Es ist ein tolles Gefühl, wenn man sieht: Das geht auf uns zurück», sagt Wohlleben.

«Auf keinen Fall will ich sterben»

Unweigerlich stellt sich bei Projekten dieser Schwierigkeit die Frage, ob die Unternehmungen nicht gefährlich und ein Stück weit auch verantwortungslos sind – besonders vor dem Hintergrund, dass Wohlleben eine Familie hat. Diese Überlegungen spielen für ihn vor jeder Entscheidung für oder gegen ein Projekt eine gewichtige Rolle. Ohne zu zögern, räumt er ein: «Was ich mache, ist sicher ein Stück weit verantwortungslos.» Letztendlich geht es für ihn aber um eine bestimmte Frage: «Welche Verpflichtung habe ich mir gegenüber, dass ich ein erfülltes Leben habe, und welche den anderen gegenüber? Das ist eine Frage der Balance.»

Für den 31-Jährigen sieht die Balance so aus, dass er anstatt zehn oder fünfzehn wirklich gefährlichen Projekten nur deren zwei oder drei im Jahr macht. Das sei auch der Unterschied zu seinem guten Freund Ueli Steck gewesen, welcher «das Kribbeln, etwas zu machen» noch viel häufiger als er verspürt habe. «In dem Umfang, wie ich es mache, ist es vertretbar», sagt der Extremsportler, «und für mich reicht das auch als Erfüllung». Er betont: «Wir sind nicht lebensmüde. Auf keinen Fall will ich sterben – gewisse Risiken gehören aber einfach ein Stück weit dazu.»

400-Meter-Absturz: «Da hätte es auch fertig sein können»

Wie real die Risiken sind, hat Wohlleben schon am eigenen Leib erfahren. In Erinnerung geblieben ist ihm ein Erlebnis in den Südtiroler Dolomiten. An einer Eiswand stürzte er 400 Meter in die Tiefe. «Da hätte es auch fertig sein können. Ich habe aber einfach Glück gehabt», sagt er. Es gebe bei jeder gefährlichen Tour Momente, in denen man denke: Hier will ich jetzt nicht sein.

Doch genau solche Momente scheinen auch einen Teil des Reizes auszumachen. «Dieses Sich-Spüren bei schwierigen Touren ist natürlich sehr hoch. Und es macht auch ein bisschen abhängig», erklärt der Deutsche. Damit müsse man umgehen können. «Ich merke, dass es mich jeweils psychisch belastet. Im Winter habe ich zwei Touren gemacht, nach denen ich mental am Ende war. Dann wäre es dumm, nochmals etwas anzufangen.»

Der Umgang mit kritischen Stimmen

Verunglückt ein Bergsteiger bei einer gefährlichen Unternehmung, werden nebst Beileidsbekundungen auch immer wieder kritische Stimmen laut – «selbst schuld» oder «es war eine Frage der Zeit, bis etwas passiert», heisst es dann oft. «Ein Urteil von Leuten, die sich nicht damit auskennen, ist fast ein wenig unfair», sagt Wohlleben dazu.

Wer dem deutschen Extrembergsteiger zuhört, spürt: Leichtfertig ist dieser Mann nicht. Für ihn geht es einfach um viel mehr, als um das blosse Eingehen von Risiken und den Drang Aussergewöhnliches zu leisten. Es geht um eine Herzensangelegenheit, eine Leidenschaft, um nichts Geringeres als die persönliche Erfüllung des eigenen Lebens. Dafür Risiken einzugehen, ist kaum verwerflich – und deshalb ist für Michael Wohlleben auch klar: «Aufhören steht nie zur Debatte. Man macht es ja von Herzen.»

Wie spektakulär Michael Wohllebens Klettertouren im Alpstein und in anderen europäischen Gebirgen sind, siehst du in unserem Video.

veröffentlicht: 24. Oktober 2021 06:49
aktualisiert: 24. Oktober 2021 06:49
Quelle: FM1Today

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