Interview

Pflegeverband reagiert auf Lockerungen: «Die Belastung des Personals macht mir Sorgen»

· Online seit 16.04.2021, 05:33 Uhr
Der Bundesrat hat beschlossen, die Corona-Massnahmen zu lockern. Wir haben mit Barbara Dätwyler, Präsidentin des Berufsverband für Pflegende in der Ostschweiz, über Risiko, Angst und Hoffnung gesprochen.
Mauro Lorenz
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Frau Dätwyler, was war Ihre erste Reaktion auf den Entscheid des Bundesrats am Mittwoch?
Barbara Dätwyler: Wir sind mit der Impfkampagne noch nicht so weit, wie wir gerne wären. Die Situation auf den Covid- und Intensivstationen hat sich nicht wesentlich entspannt. Darum finden wir vom Berufsverband Pflege die Öffnungen gewagt.

Wie können wir uns den Alltag auf diesen Stationen vorstellen?
Auf den Intensivstationen liegen nach wie vor viele Covidpatienten. Aktuell gibt es eine Zunahme der schweren Krankheitsverläufe, vor allem unter jüngeren Patienten. Allgemein ist das Durchschnittsalter gesunken. Das ist natürlich immer eine Herausforderung für die Pflegenden. Man identifiziert sich mit den Patienten und wenn diese in einem ähnlichen Alter sind, wie man selbst, verändert das die Betroffenheit. Hinzu kommt der Umgang mit dem Virus im Privatleben, auch da ist keine Entspannung möglich.

Also kommt es auch immer noch zu Krankheitsfällen beim Personal?
Ja, leider. Ein Teil des Personals ist zwar mittlerweile geimpft, aber immer noch nicht alle. Diese Krankheitsfälle führen zu fehlendem Personal, was den Stresspegel weiter erhöht. Kurzfristig kann dies gut gehen, doch seit über einem Jahr ist der Pegel konstant hoch. Was vielen in Pflegeberufen psychisch und physisch zu schaffen macht.

Führt dies zu Schwierigkeiten, die Leute im Beruf zu halten?
Das gab es bereits vor der Pandemie und solche Situationen verschlimmern natürlich das Ganze. Aktuell beissen sich alle durch, denn es liegt nicht im Wesen der Pflegenden, während der Pandemie aufzuhören. Um aber Ihre Frage zu beantworten: Der psychische Druck bringt immer wieder Pflegende dazu, den Beruf zu verlassen. Das zeigen Umfragen und ist auch eine grosse Zukunftssorge für uns.

Werden Pflegende in solchen Situationen vom Bund oder Kanton unterstützt?
Der Schweizerische Berufsverband ist in sehr engem Kontakt mit dem Bundesamt für Gesundheit. Wir haben nun auch erreicht, dass Pflegende in der Task Force des Bundes vertreten sind. Diese Stimmen, die wissen, wie es in den Spitälern zu und her geht, sind enorm wichtig für uns. Klar gibt es in Bern viele Lobbyisten, aber wir haben es geschafft, uns Gehör zu verschaffen. Auch mit den Kantonen sind wir in regelmässigem Austausch und nutzen diese Kanäle auch gerne.

Ihr fühlt euch also vom Bund gehört?
Ja, gehört werden wir auf jeden Fall. Mittlerweile haben wir es geschafft, ernst genommen zu werden. Das ist ein grosser Erfolg für uns. Es ist aber auch so, dass unsere Anliegen nicht immer mit höchster Priorität behandelt werden. Der Eindruck entsteht oft, dass zum Beispiel Wirtschaftsverbände mehr Gehör bekommen als wir. Als Pflegende ist dies oft schwer zu verstehen und löst eine gewisse Ohnmacht in mir aus. Die Pandemie ist eine Gesundheitskrise und wird zu einem grossen Teil von uns getragen. Klar, als Verband verstehen und respektieren wir die politischen Prozesse und wissen, dass man nicht auf alle hören kann. Trotzdem fällt es mir schwer, den Leuten in den Spitälern das zu erklären.

Ist trotzdem ein Verständnis für die Öffnungen da?
Als Privatperson freuen sich logischerweise auch Pflegende über ein Treffen mit Freunden oder auch einen Kinobesuch. Schliesslich ist auch das ein Teil der Entspannung. Auf der anderen Seite kann man die Berufsfrau nicht einfach ausschalten. Das ist genau der psychische Druck, den ich vorhin angesprochen habe.

Das Gesundheitssystem an den Rande der Überlastung bringen mit dem Besetzen von Betten, ist eine Sache. Die Belastung des Personals, das macht mir Sorgen und deshalb sind die Öffnungen gewagt.

Haben Sie Angst vor der dritten Welle oder sind wir schon mittendrin?

Natürlich ist die Angst ein Faktor, aber man hat sich mittlerweile an die Ausnahmesituation gewöhnt, es ist fast Normalität geworden. Die wirkliche Angst ist, dass wir wieder an den Anschlag kommen mit den Covid- und Intensivstationen, ähnlich wie wir es im November erlebt haben. Da war die Situation sehr dramatisch und der Druck war enorm hoch. So etwas wollen wir unbedingt vermeiden. Ich will aber keine Panik verbreiten, wir haben gelernt, mit diesen Herausforderungen zu arbeiten. Dass wir aber mit der Pandemie noch eine Weile Leben müssen, das ist uns allen klar.

Der Bundesrat hat am Mittwoch noch die Antikörpertherapie erwähnt, die sehr gut zu funktionieren scheint. Könnte das den Alltag der Pflegenden verbessern?
Die Hoffnung dahinter ist vor allem, dass es weniger der schwere Verläufe gibt. Denn jetzt gibt es viele Patienten, die lange auf den Stationen sind und auch lange Therapien haben. Mit einer erfolgreicheren Therapie könnte man diese Aufenthalte verkürzen. Das ist natürlich ein Hoffnungsschimmer für die Pflegenden.

veröffentlicht: 16. April 2021 05:33
aktualisiert: 16. April 2021 05:33
Quelle: FM1Today

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