Jugendpsychiatrie

«Der Kanton hat es verschlafen, aktiv niederschwellige Angebote zu schaffen»

27.05.2022, 14:26 Uhr
· Online seit 27.05.2022, 06:55 Uhr
Kinder und Jugendliche warten teilweise ein halbes Jahr auf einen Platz in einer psychiatrischen Einrichtung – und der Kanton St.Gallen lässt sich Zeit. Ein Unding, findet SP-Politikerin Katrin Schulthess. Im Interview macht sie klar, wie prekär die Lage wirklich ist und sagt, was jetzt sofort passieren muss.
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In kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen im Kanton St.Gallen fehlt es an Personal und Platz – und das nicht erst seit der Corona-Pandemie. Obwohl Kantonsräte politisch Druck machen und das Gesundheitsdepartement das Problem kennt, passiert wenig. Viel zu wenig, findet Katrin Schulthess, Gemeinderätin und Co-Präsidentin der SP Grabs, Kantonsrätin und Case Managerin. Bereits 2021 hat sie dazu eine Dringliche Interpellation eingereicht.

Katrin Schulthess, seit ihrer Dringlichen Interpellation letztes Jahr ist nicht wirklich viel passiert. Verkennt der Kanton St.Gallen den Ernst der Lage?

Es zeichnet sich schon länger ein Engpass ab, schon lange vor Corona. Spezifische Angebote müssen den Betroffenen rasch zur Verfügung gestellt werden. Es kann nicht sein, dass seit 2018 eine Arbeitsgruppe ein Konzept erarbeitet, mit der Frage, mit welchen Massnahmen den Versorgungslücken entgegengetreten werden soll. Jetzt haben wir das Jahr 2022 plus Corona. Der Kanton hat es verschlafen, aktiv niederschwellige Angebote zu schaffen.

Das Problem wird zwar erkannt, das sieht man auch in der Interpellationsantwort. Aber was wurde bislang unternommen? Wenn es irgendwo brennt, dann holt man die Feuerwehr und bildet nicht erst eine Arbeitsgruppe, um zu diskutieren, was man jetzt machen könnte.

In der Regierungsantwort steht, dass der Kanton die Lage erst 2023 neu beurteilen will. Wie finden Sie das?

Das stösst mir auf, muss ich ehrlich sagen. Meiner Meinung nach muss man schneller reagieren. Das Thema wird vernachlässigt und in den Spitälern und Psychiatrien wird gespart wie verrückt. Wenn ich sehe, wie sich die Situation immer mehr zuspitzt, finde ich das nicht in Ordnung.

Der Kanton hat im Jahr 2021 einen jährlichen Betrag von 1,1 Millionen Franken für den Ausbau der Notfallversorgung gesprochen, aber das ist viel zu wenig. Ich denke, es bräuchte mehr Ressourcen, um die akute Lage in den Griff zu bekommen

Was pressiert jetzt am meisten?

Man sieht schon länger, dass man niederschwellige Angebote schaffen muss. Ich sehe grosses Potenzial in der intermediären, aufsuchenden Arbeit. Früherkennungshilfen in den Schulen und dem Bildungswesen wären wichtig – und das schon in der Oberstufe. Man wird nicht erst mit 18 Jahren krank, psychische Störungen zeigen sich bei Jugendlichen in dieser fragilen Lebensphase der Reifung.

Wie würden diese Angebote konkret aussehen?

Die Früherkennung könnte man relativ schnell ausbauen und auch Prävention ist ein grosses Thema. So könnte man Lehrpersonen für das Thema sensibilisieren. Man muss die Kinder und Jugendlichen früh abholen, damit es nicht zu einer chronischen Erkrankung kommt. Die Suizidrate bei Jugendlichen ist sehr hoch und muss uns aufhorchen lassen und zum Handeln zwingen.

Der Kanton scheint es nicht eilig zu haben. Eigentlich skandalös?

Ich weiss, dass die politischen Mühlen langsam mahlen. Ich bin aber der Meinung, dass man die Möglichkeit hätte, schnelle Massnahmen auszuprobieren.

Man könnte mehr Geld sprechen, das hat man während der Corona-Pandemie auch gesehen mit den A-fonds-perdu-Beiträgen. Ich kann mir nicht erklären, wieso der Kanton nicht schneller etwas zusprechen kann, was vielleicht die Spitze des Eisbergs brechen könnte.

Vom 13. bis 15 Juni ist wieder Session. Wie blicken Sie dieser entgegen?

Wir planen für die nächste Session einen neuen Vorstoss. Unsere einzige Möglichkeit Druck zu machen ist, indem wir immer und immer wieder nachfragen. Im neuen Vorstoss fragen wir unter anderem, was geplant ist, wie sich die Wartefristen verändert haben und ob es wirklich immer hoch qualifiziertes Personal braucht.

Wir profitieren alle davon, wenn es den Jungen gut geht. Hier muss schnell gehandelt werden. Ich erhoffe mir, dass die Dringlichkeit erkannt wird – und zwar auch überparteilich.

Sind denn überhaupt genügend Fachkräfte vorhanden, um niederschwellige Angebote so kurzfristig umzusetzen?

Ich denke, es gibt genug qualifizierte Fachleute. Man müsste es so aufgleisen, dass man für die erste Triage nicht gleich einen Arzt braucht. In der Phase der Früherkennung können zum Beispiel Sozialarbeiterinnen oder Schulsozialarbeiter eingesetzt werden.

Die Sensibilisierungsarbeit könnte man schnell aufgleisen. Das Gesundheits- und Bildungswesen und die Jugendarbeit müssten sich dazu vernetzen. Es gibt sogar bereits solche Fachgremien. Man könnte auch ein Pilotprojekt starten und muss nicht erst warten, bis ein fertiges Konzept da ist.

Ein grosses Problem ist der Mangel an Ärztinnen und Ärzten der Kinderpsychiatrie. Wie könnte man dem entgegenwirken?

Im Gesundheits- und Bildungswesen ist es noch immer so, dass die Psychiatrie an letzter Stelle kommt. Wenn man Medizin studieren möchte, wird deutlich, dass Psychiatrie studieren nicht attraktiv ist, weil der Lohn niedriger ist und die Anerkennung fehlt. Man müsste die Attraktivität der Ausbildung fördern und den Numerus Clausus abschaffen und die Zulassungsbestimmungen für ausländische Ärzte anpassen. Der Medical Master an der HSG ist ein Anfang.

Sie sagen, Psychiatrie kommt als Letztes. Sind sich die Leute einfach nicht bewusst, wie wichtig psychische Gesundheit ist?

Ich glaube, dass psychische Erkrankungen gesellschaftlich noch nicht genügend akzeptiert werden. Eine Stigmatisierung der Betroffenen führt dazu, dass viele Betroffene sich schämen und nicht dazu stehen, dass sie Hilfe brauchen. Psychische Gesundheit muss für alle ein grundlegendes Menschenrecht sein und als solches verstanden werden. Wir sind erst am Anfang, das zu akzeptieren.

veröffentlicht: 27. Mai 2022 06:55
aktualisiert: 27. Mai 2022 14:26
Quelle: FM1Today

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