Saxerriet

Der Mann, der sich nicht freut, das Gefängnis zu verlassen

31.08.2020, 05:41 Uhr
· Online seit 28.08.2020, 15:32 Uhr
22 Jahre lang war Martin Vinzens Direktor der Justizvollzugsanstalt Saxerriet. Nächsten Mai geht der studierte Theologe in Pension. Er erzählt, wie es ist, sein Leben Seite an Seite mit Kriminellen zu verbringen, ohne den Glauben an die Menschheit zu verlieren.
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4000 Gefangene hat er kommen und gehen sehen. 4000 Schicksale, die Martin Vinzens als Direktor der JVA Saxerriet begleitet und geleitet hat. Sein Ziel: Neuanfang, eine zweite Chance, die ein jeder verdient hat. Denn niemand werde böse geboren, sagt Vinzens. Nach 22 Jahren ist es nun er, der das Gefängnis endgültig verlässt. Im Mai 2021 wird der heute 64-Jährige pensioniert.

«Ich freue mich nicht auf die Pension», sagt der gebürtige Churer. In den letzten 22 Jahren habe er sich stark über seine Arbeit identifiziert. Neben der Führung der Gesamtinstitution, zahlreichen Insassengesprächen, dem Lesen von Gutachten oder Urteilen betreut er die laufenden Projekte in der Anstalt und führt die verschiedenen Abteilungen. Die Strafanstalt verfügt über 135 Plätze, ausschliesslich für Männer. Um mit diesen einen Weg in ein straffreies Leben zu finden, führt Martin Vinzens regelmässig Gespräche, auch mit der kleineren Gruppe von Sexualstraftätern, Mördern und Kindsmisshandlern. Was andere erschaudern lässt, gehört für Vinzens zum täglichen Geschäft.

Leben neben den Insassen

«In meiner Anfangszeit musste ich lernen, die teilweise schrecklichen Geschichten nicht mit nach Hause zu nehmen», sagt der Gefängnisdirektor. In dieser Zeit ist seine Frau seine wichtigste Gesprächspartnerin gewesen. «Sie musste sich viele Geschichten anhören.» In den ersten drei Jahren als Gefängnisdirektor lebte sogar die ganze Familie Vinzens auf dem Anstaltsgelände. Trotz aller Leidenschaft zum Beruf – das war auch Martin Vinzens zu nah und die Familie zog ins Dorf nach Sax.

Es war nicht das erste Mal, dass Vinzens direkt neben einem Gefängnis zu Hause war. «Ich bin gleich neben dem Gefängnis Sennhof in Chur aufgewachsen.» Ein Vorbote für seine künftige Tätigkeit sei dies aber nicht gewesen. Als Kind wollte er Hoteldirektor werden. «Wenn man etwas zynisch ist, kann man sagen, dass ich das erreicht habe.» Bevor sich der 64-Jährige mit den Sündern beschäftigte, war er eher den Heiligen zugetan. «Ich habe Theologie studiert und auch lange Zeit in diesem Bereich gearbeitet.» Der Wechsel in die Vollzugsanstalt sei ihm eher zugefallen. «Bevor ich mich beworben hatte, wusste ich gar nicht, wo das Saxerriet ist. Auf meinem Karriereplan stand es auf jeden Fall nicht.»

Quelle: FM1Today

«Strafvollzug ist wie Kindererziehung»

Er sei vor 22 Jahren mit einem «Glauben an das Gute» in die Arbeit als Gefängnisdirektor gestartet, den er aber bald relativieren musste. «Heute müssen sich die Gefangenen mein Vertrauen erarbeiten. Das hat mit diversen Rückschlägen zu tun.» Er berufe sich in seinen Gesprächen mit den Gefangenen auf Fakten, abgestumpft sei er aber trotzdem nicht. «Strafvollzug ist Beziehungsarbeit. Ich vergleiche es gerne mit der Erziehung meiner Kinder. Wenn man eine Vereinbarung trifft, diese aber nicht eingehalten wird, gibt es Konsequenzen. Und wenn es einmal nicht klappt, hört man ja auch nicht mit der Kindererziehung auf.»

Zu den Tiefpunkten seiner Arbeit gehöre es, wenn ehemalige Insassen rückfällig werden. «In diesen Momenten muss man sich reflektieren und fragen, was falsch gelaufen ist. Es gibt da eine gewisse Ohnmacht.» Einen spezifischen Fall, der ihm in Erinnerung geblieben ist, kann Vinzens nicht nennen. Es seien jedoch immer die Delikte mit Kindern, welche besonders schwer wiegen würden: «Es ist das schlimmste, wenn die schwächsten Glieder der Gemeinschaft angegriffen werden. Das prägt ein Kind und lässt sich nicht wieder gut machen.»

An der Menschheit zweifelt er deswegen aber nicht. «Das ist nicht meine Philosophie», sagt Vinzens. «Ich glaube auch nicht, dass jemand von Geburt an böse ist. Man kann aber in eine Situation hineingeboren werden, die für den guten Weg nicht begünstigend ist.»

Faszination für das Kriminelle

Martin Vinzens selbst, so sagt er es, hat nie etwas verbrochen, zumindest nicht im strafrechtlich relevanten Bereich. «Es gab schon kleine Scharmützel wie Parkbussen oder ähnliches. Mein Strafregisterauszug ist aber sauber.» Auch wenn er selbst eine weisse Weste hat – die Faszination für die Kriminalität war immer da. «Je nachdem, wie mein Leben verlaufen wäre, hätte es auch sein können, dass ich das Gefängnis von der anderen Seite der Zellentür aus kennengelernt hätte.»

Auch wenn der studierte Theologe von sich sagt, er sei nicht der Seelsorger im Saxerriet – er kümmert sich um seine «Schäfchen». «Ich will nicht sagen, dass ich viele Schattenseiten habe, aber in meiner Position muss man die Insassen verstehen. Das heisst nicht, dass ich mit ihrem Handeln einverstanden sein muss.» Der Gefängnisdirektor stellt sich selbst nicht auf ein Podest, begegnet den Insassen auf Augenhöhe. «Ich bin aber weiss Gott kein Heiliger und muss mich selbst oft hinterfragen.»

Wie weiter nach Saxerriet?

Für die grossen Fragen des Lebens will er sich spätestens im Mai 2021 wieder mehr Zeit nehmen. Diese seien in seinen 22 Jahren in der Strafanstalt zu kurz gekommen. Auch wenn die Wehmut im Hinblick auf seine Pension überwiegt, ist er sich sicher, dass er das Kapitel Saxerriet abschliessen will. «Ich werde mir neue Sachen suchen. Eine Leidenschaft von mir ist das Schreiben. Ob daraus ein Buch enstehen wird, weiss ich noch nicht. Zu erzählen gäbe es auf jeden Fall genug.»

veröffentlicht: 28. August 2020 15:32
aktualisiert: 31. August 2020 05:41
Quelle: FM1Today

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