Ostschweiz
St. Gallen

Die Reportage über die Pilzkontrolleurin Pilztrudi von Goldach

Reportage

«Pilze kontrollieren, ist für mich die Kür»

18.09.2019, 15:12 Uhr
· Online seit 15.09.2019, 07:27 Uhr
Seit 20 Jahren kontrolliert Trudi Jäger in Goldach täglich die Pilze der Hobbysammler. «Einen Profi», nennen sie die Pilzler. Sie bleibt bescheiden und erzählt von Klimaerwärmung und Pilzen, die lustig machen.
Anzeige

«Amtliche Pilzkontrollstelle» – ein weisses, offizielles Schild hängt an der Haustüre von Trudi Jäger in Goldach. Darunter ein roter Fliegenpilz aus Karton und Papier. Es sieht aus als wäre es von einem Kind gebastelt.

Trudi Jäger schickt mich hinters Haus. Noch bevor ich mich orientieren kann, sitzt sie schon an ihrem Arbeitsplatz, dem Sitzplatz. Von der Sonne bescheint und auf einem Holzhöcker sitzend blättert sie mit ihren zittrigen Händen in zahlreichen Pilzbüchern und -kalendern.

Einige Artikel sind mit einem Haken versehen, diejenigen, die von ihr bereits gelesen wurden. «Sonst lese ich alles zweimal», sagt sie und lacht mich an: «Übrigens, Sie haben gerade zwei Gäste verpasst, die schöne Pilze dabei hatten.»

Klimaerwärmung bringt seltene Pilze zurück

Es scheint, als würde sich Frau Jäger etwas unwohl fühlen bei der Begegnung einer Journalistin. Sie steht nicht gerne im Mittelpunkt. Ihr Alter verrät sie mir nicht und auch gefilmt werden möchte sie nicht. Reden wir über persönliche Dinge, antwortet sie grösstenteils mit «ja ... unterschiedlich».

Werden Pilze zum Thema, ist sie mit Fakten und Geschichten nicht mehr zu stoppen. «Dieses Jahr hat unglaublich viele Steinpilze und eindrücklich ist auch, dass wegen der Klimaerwärmung auf einmal Pilze in der Schweiz auftauchen, die man vorher auf der roten Liste ‹ziemlich selten und gefährdet› sehen konnte.» Die Rede ist von Anhängsel-Röhrlingen und den parfümierten Trichterlingen.

Lupe, Rüstmesser und Schreibblock

Die nächsten Gäste trudeln ein, in Wanderkleidung und mit gefüllten Körben. Darin befinden sich zufälligerweise einige dieser seltenen Exemplare. Das Paar weiss noch nichts davon, werden von Trudi Jäger aber schnell aufgeklärt. «Es handelt sich hier um einen wärmeliebenden Pilz, der sich wegen der Klimaerwärmung in der Schweiz ausgebreitet hat. Es ist ein prächtiger Anhängsel-Röhrling.»

Das Paar leert ihre Brot- und Stoffsäcke aus. Der Tisch auf dem Sitzplatz füllt sich mit grossen, kleinen, hellen und dunklen Pilzen. Zu sehen sind Mönchsköpfe, Steinpilze, Hohlfuss- und Hexenröhrlinge und vieles mehr.

Trudi Jäger hat nun keine Zeit mehr für mich, konzentriert sich jetzt voll und ganz auf ihre verantwortungsvolle Aufgabe der Pilzkontrolle. Sie schneidet den Stiel eines Pilzes auf: «Sehen Sie, der Stiel ist hohl.» Sie nimmt die Lupe zur Hand: «Der hat keine Lamellen, der hat Röhren.»

Jetzt kommen Verarbeitungstipps: «Nicht kochen, sonst zerfällt der Pilz» und schliesslich notiert sie mit zittrigen Händen die kontrollierten Pilze auf einem Block. «Sie ist ein Profi», sagt der Mann und schaut Trudi Jäger gespannt bei der Analyse zu.

Pilze, die lustig machen

Auf die Frage, ob jemand auch schon Pilze gebracht hätte, die lustig machten, lacht Trudi Jäger herzlich. «Sie meinen diese psilocybinhaltigen Pilze? Ja, die hatte ich auch schon bei mir zur Kontrolle. Dann sage ich einfach: ‹Ich kenne diese nicht.›» Nicht ernst zu nehmen, dass Trudi Jäger Pilze nicht kennen könnte. Jeden Abend bildet sie sich in Fachheften weiter und «in diesem Google» habe sie sich auch schon Informationen beschafft, denn: «Niemand auf der Welt kennt alle Pilze.»

Trudi Jäger hat, so erzählt sie es mir mehrfach, früher ihrem Mann, der ebenfalls Pilzkontrolleur war, täglich zugeschaut. Habe so von ihm gelernt und in den 1980er-Jahren die Prüfung zur Kontrolleurin gemacht, weil es zu wenige davon gab. «Die Leute haben das Gefühl, wenn man zehn Pilze kennt, könne man diesen Job schon ausführen.»

Trudi strahlt Faszination aus

Langsam hat sich Trudi an meine Präsenz gewöhnt und wird immer redseliger. Tagtäglich habe sie mit netten Leuten zu tun, denen sie etwas beibringen könne und das schätze sie sehr. Früher habe sie sogar aus Mitleid, wenn jemand ohne essbare Pilze die Kontrolle wieder verlassen musste, ihm oder ihr einige ihrer eigenen Pilze verschenkt. «Wissen Sie, die Pilzkontrolle ist für mich die Kür.»

Trudi Jäger hat es geschafft, ihre Pilz-Faszination auf mich zu übertragen. Ich hasse Pilze und trotzdem schaue ich mir diese Pflanzen nun mit anderen Augen an. Ich verabschiede mich von ihr. Schlängle mich auf ihrem Balkon zwischen einem riesigen Fliegenpilz aus Pappmaché und zahlreichen, getrockneten Baumpilzen durch. Trudi schaut mir nach und vertieft sich dann wieder in das Pilzheft. Bleibt sitzen, bis der nächste Gast, hoffentlich bald, kommt.

veröffentlicht: 15. September 2019 07:27
aktualisiert: 18. September 2019 15:12
Quelle: FM1Today

Anzeige
Anzeige