Ein neues Leben für Marco: Krebspatient erhält Stammzellentransplantation
Dass Familie Schwinger-Waespe aus St.Gallen seit Jahren von einer schweren Krankheitsgeschichte erdrückt wird, bleibt im ersten Moment verborgen. Die Kinder Iva (5) und Milo (4) warten auf die Babysitterin. Die Eltern Gaby (39) und Marco (42), beides Lehrpersonen, beobachten ihre Kinder und scheinen glücklich.
Gaby hat ihre Haare zusammengebunden, sie ist leicht geschminkt, trägt einen weiten, grauen Pullover und dunkelblaue Jeans. Marco ist ganz in blau gekleidet, bequeme Hosen und ein locker sitzender Pullover. Es ist Tag 169, der 24. November 2021. Seit Monaten habe ich Marco nicht mehr gesehen. Ausser den Babysitterinnen durfte niemand die Familie besuchen. Wegen ihm. Jetzt sitzen wir am Esstisch. Wir duzen uns. Zum einen, weil Marco und Gaby mir sofort das «Du» angeboten haben, zum anderen, weil ich über mehrere Monate einen tiefen Einblick in ihr Privatleben erhielt und ihnen sehr nahegekommen bin. Beim Treffen tragen alle eine FFP-2-Maske. Zu Marcos Schutz. Denn er ist noch nicht über den Berg.
Marco Schwinger hat Krebs. Bereits zum dritten Mal kämpft der St.Galler gegen den bösartigen Tumor, der ihm auf die Lunge drückt. Bei der Diagnose vor vier Jahren besiegte er das Lymphom mit Chemotherapien, beim ersten Rückfall 2018 mit einer Antikörpertherapie und autogenen Stammzellentransplantation – also mit seinen eigenen Zellen. Beim zweiten Rückfall im Jahr 2020 sollen ihn Spenderzellen von der tödlichen Krankheit befreien. Ich begleite Marco seit der allogenen Stammzellentransplantation. Seit Anfang Juni 2021 habe ich wöchentlich Kontakt mit ihm. Wir telefonieren, schreiben uns Whatsapp-Nachrichten, skypen oder schicken uns Sprachnotizen. Nie gehen wir in ein Kaffee oder treffen uns zum Spazieren. All das könnte für den 42-Jährigen gefährlich werden, ja sogar tödlich enden. Trotzdem komme ich Marco und seiner Familie in diesen Monaten nahe – näher als ich zunächst dachte und wollte. Wir sprechen über seine Krankheit, die Stammzellentransplantation, den Tod, die Hoffnung, Gegenwart und die Zukunft.
Marco und Gaby sind seit sechs Jahren verheiratet.
«Die Zeit nach dem Spital war übel – aber alles in allem geht es uns gut»
«Die Frage ist immer, wie es Marco geht, denn er ist der Gradmesser für das Wohlbefinden der ganzen Familie», sagt Gaby an diesem grauen Novembertag. «Die Zeit nach dem Spital war definitiv übel. Als Marco zu Hause war, gab es einige Komplikationen. Aber alles in allem geht es uns jetzt gut, vor allem in den ruhigen Phasen. In den Herbstferien konnten wir abschalten und vergessen was los ist.» Marco ergänzt: «Es kann so schnell gehen. Wir können ganz gute Momente haben, und dann kommt prompt etwas wie Durchfall, Erbrechen und die Situation dreht plötzlich.»
In knapp einem Monat, Mitte Dezember, kommt aus, ob die neuen Stammzellen in Marcos Körper den Tumor bekämpft haben werden. Bis dahin ist es ein langer und nicht immer einfacher Weg für die ganze Familie. Um zu verstehen, wie sehr Marco um sein Leben kämpfte, müssen wir zurück zum Anfang. Zurück zu Tag -1, dem Tag vor der Stammzellentransplantation.
Hochdosis-Chemotherapie und eine neue Blutgruppe
Marcos Spitalzimmer sieht so aus wie ein Spitalzimmer eben aussieht: Weisse Wände und ein Bett mit vielen Apparaturen. Am Fenster stehen ein Tisch mit zwei Stühlen und ein bequemer Sessel; auch ein Badezimmer gehört zur Ausstattung. Alles steril. Alles sehr lieblos. Der Ausblick: Die Zürcher ETH. An einer Wand hängen Fotos und Zeichnungen seiner zwei Kinder. Vor dem Bett steht ein Fitness-Velo. Betreten kann man das Zimmer nur durch zwei schwere Türen und eine Art Schleuse. Im Unispital Zürich verbringt Marco mehrere Wochen.
Er ist am Montag, 31. Mai, eingerückt, gleich darauf startete die Hochdosis-Chemotherapie für die Stammzellentransplantation. Zwei Personen dürfen ihn während seines Aufenthalts im Spital besuchen, seine Frau Gaby und Claude, ein guter Freund. «Heute erhielt ich die zweite Chemo, und morgen gibt es die dritte Dosis», sagt er. Am Dienstag, wenn ihm die neuen Stammzellen transplantiert werden, ist Tag 0.
Quelle: Krisztina Scherrer/FM1Today
Für eine Stammzellenspende kommen nur gesunde, über 50 Kilogramm schwere und bis 40 Jahre alte – am besten männliche – Personen in Frage. «Mit diesen Spendern gibt es am wenigsten Komplikationen», sagt Doktor Urs Schanz, Hämatologe und Leiter des Stammzellentransplantationsprogramms am Unispital Zürich. Zusätzlich muss die Gewebeverträglichkeit von Spender und Empfänger übereinstimmen.
Vier bis sechs Stunden, manchmal mehrere Tage: So lange kann das Sammeln von Stammzellen dauern. «Es braucht genügend Stammzellen, damit man transplantieren kann. Sonst ist die Chance, dass es klappt, klein.» Die Stammzellen sitzen im Knochenmark selbst. Im Blut haben wir Menschen nur wenige Stammzellen. «Wenn man diese transplantieren will, muss man sie aus dem Knochenmark ins Blut bewegen», so Schanz. Dafür wird dem Spender ein Medikament gespritzt, welches die Stammzellen ins Blut schwemmt. Die spendende Person wird beim Entnehmen der Stammzellen an den Zellseparator «angeschlossen». «Auf der einen Seite kommt das Blut raus und die Stammzellen werden mittels einer Zentrifuge rausgefischt», erklärt Schanz. Die anderen Zellen, die leichter oder schwerer sind, werden dem Spender wieder zurückgegeben. «Das heisst, ausser Stammzellen und einzelnen Lymphozyten fehlt dem Patienten nichts. Und deshalb kann man das auch mit gesunden Stammzellenspendern machen, da es praktisch keinen Blutverlust gibt.»
100 Tage ab Stammzellentransplantation – je nach Patientin oder Patient – dauert es, bis man sagen kann, ob der Körper die Blutgruppe gewechselt hat und das neue Immunsystem funktioniert. «Der Empfänger hat nachher die Bluteigenschaften des Spenders, dazu gehört auch das Immunsystem», sagt Urs Schanz. In diesen 100 Tagen kann es immer wieder mal passieren, dass das Blut Teile von Marcos Körper abstösst. Dann müssen die Medikamente wieder erhöht werden. «Wenn die Patientinnen und Patienten zwei Jahre nach der Transplantation keinen Rückfall erleiden, darf man sie als geheilt betrachten.» Ein Teil der Menschen wird den Krebs nicht los oder erleidet einen Rückfall.
Jetzt heisst es Abwarten
Am 8. Juni 2021 ziehen kräftige Gewitter vom Bodensee her über den Thurgau und St.Gallen. Während wir uns in St.Gallen über das Wetter aufregen, beginnt für Marco ein neuer Kampf ums Leben. Es ist der Tag der Stammzellentransplantation. Tag 0. Marcos Cousine ist die Spenderin – sie will anonym bleiben. «Für mich war sofort klar, dass ich Marco meine Stammzellen spende», sagt die 37-Jährige. Über die Spende sagt sie: «Das Schlimmste war das Warten, aber sonst lief alles gut. Es ist ein mega schönes Gefühl, dass ich helfen kann.»
Für Marco heisst es nach der Transplantation erstmal abwarten. Wir hören uns drei Tage später wieder. «Grüezi wohl», sagt er. Am Abend nach der Transplantation hatte er Fieber. «Aber das ist normal. Langsam geht es mir wieder gut.» Er habe durchgeschlafen, «von Dienstag bis heute, eigentlich.» Die Hochdosis-Chemotherapie, die er im Vorfeld über sich ergehen lassen musste, habe ihm zugesetzt. «Die Blutwerte gehen runter. Deshalb bin ich so müde.»
Trotzdem erledigt er einige administrative Sachen, schreibt Karten oder telefoniert mit seinen Kindern. «Wir hören uns zwei- bis dreimal am Tag. Am Morgen, am Abend und bevor sie ins Bett gehen. Es gibt Tage, da haben sie nicht so Lust, dann lassen wir es.» Gaby besucht ihn oft – auch Claude war schon einige Male da. Er war sein Mittelstufenlehrer und Badmintontrainer. «Er ist meine zweite Familie. Einen Monat vor meiner Diagnose verlor er seine Frau an Leukämie. Ich habe ihn als meinen zweiten Besucher bestimmt, weil er eine wichtige Bezugsperson ist und sich gut in meine Situation einfühlen kann.»
Marcos Alltag im Spital: Morgens Arzttermine und Besprechungen, pünktliche Medikamenteneinnahme, Mittagessen, danach auf das Velo, am Nachmittag legt er sich hin. Mal ist Marco müde, mal fühlt er sich topfit. Knapp zehn Tage nach der Transplantation sagt er: «Die Ärzte sind etwas überrascht, dass es mir so gut geht und ich mich bewegen kann. Andere liegen mit so tiefen Blutwerten nur im Bett, ich versuche, mich einfach immer weiterzubewegen. Ich kämpfe gegen die Müdigkeit.»
Am 20. Juni verlässt Marco das Spital in Zürich. Er darf früher nach Hause als erwartet. Ob das an seiner Kämpfer-Natur liegt?