Babyfenster

«Es darf nicht sein, dass ein Baby im Abfall landet»

08.01.2020, 09:35 Uhr
· Online seit 08.01.2020, 07:58 Uhr
Dass ein Neugeborenes in einer Kartonschachtel ausgesetzt wird, wirft die Frage nach der Abdeckung von Babyklappen in der Schweiz auf. Die Ostschweiz ist dabei ein weisser Fleck in der Landschaft. Behörden und die CVP setzen auf vertrauliche Geburten, andere Parteien hingegen sehen Handlungsbedarf.
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«Wie kann das passieren?», «wie verzweifelt muss jemand sein?», fragt man sich, wenn man vom tragischen Vorfall im bernischen Därstetten gehört hat. Eine 41-jährige Frau setzte am Freitagabend ihr Baby, welches sie gemäss eigener Aussage zuvor alleine auf der Strasse zur Welt gebracht hatte, in einer Kartonschachtel bei einem Werkhof aus.

Ein Mann, der zufälligerweise am nächsten Tag beim Werkhof war, fand das unterkühlte, schreiende Neugeborene. Es wurde ins Spital gebracht. Sein Zustand ist stabil. Die Mutter konnte von der Polizei dank Hinweisen noch am selben Tag ausfindig gemacht und vernommen werden. Sie sagte gegenüber der Polizei, dass sie extra einen stark frequentierten Ort aufgesucht hatte, in der Hoffnung, der Säugling würde schnell gefunden werden.

23 Babys wurden seit 2001 in Fenster gelegt

Ein Schicksal, das berührt. Auch unsere Leser melden sich zum Vorfall. Die Frage nach Babyfenstern kommt auf. Gibt es in der Schweiz zu wenig Babyfenster? «Müsste nicht jedes Spital ein Babyfenster haben?», fragt beispielsweise Facebook-User Markus.

In der Schweiz gibt es derzeit acht Babyfenster, keines davon ist in der Ostschweiz zu finden. Sechs werden vom Hilfswerk Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind (SHMK) betrieben. Diese sind in Basel, Bellinzona, Bern, Davos, Olten und Einsiedeln. Einsiedeln war das erste Babyfenster, das 2001 in der Schweiz eingerichtet wurde. Zwei weitere, in Zürich (Zollikerberg) und Sion, werden von den jeweiligen Spitälern eigenständig betrieben. Deswegen liegen dem SHMK zu diesen Babyfenstern auch keine Zahlen vor.

An den sechs SHMK-Standorten wurden seit der Einführung der Babyfenster im Mai 2001 insgesamt 23 Kinder abgegeben. Allein 17 davon in den letzten neun Jahren. Die Zahl der tot aufgefundenen Babys hat gemäss SHMK seit der Einführung der Babyfenster abgenommen. In den letzten neun Jahren wurden fünf Babys ausserhalb von Babyklappen tot aufgefunden.

Babyfenster sorgt in St.Gallen und Frauenfeld für Diskussionen

Was es bisher noch nicht gibt, sind Babyfenster in der Ostschweiz. «In der Ostschweiz wurde 2013 eine öffentliche Diskussion vor allem an den Kantonsspitälern von Frauenfeld und St.Gallen geführt, mit dem Ergebnis, dass die Behörden und Politiker zur Auffassung kamen, die Eröffnung eines Babyfensters sei keine Staatsaufgabe», sagt Dominik Müggler, Präsident der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind. 

Dominik Müggler findet diese Auffassung der Behörden etwas «bürokratisch», schliesslich gehe es darum, mit einer Einrichtung der medizinischen Nothilfe ein Angebot bereitzustellen, das Leben retten kann. «Babyfenster sind in der ganzen Schweiz sehr beliebt: Gemäss Meinungsumfragen werden sie von rund 95 Prozent der Bevölkerung positiv bis sehr positiv aufgenommen.»

Das SHMK sieht nun die Spitäler in der Verantwortung, sich zu überlegen, ob es in ihrer Region ein Babyfenster braucht oder nicht. «Die Erstellungskosten werden von uns übernommen, vorausgesetzt, der Standort passt in unser Konzept.»

Gemäss Dominik Müggler hat ein Babyfenster einen Wirkungsradius von 50 Kilometern. Ausserhalb werde es kritisch. Im Fall von Därstetten wäre das nächste Babyfenster 55 Kilometer entfernt in Bern und damit knapp ausserhalb dieser 50-Kilometer-Grenze gewesen.

Vertrauliche Geburten in St.Gallen

Von St.Gallen aus liegt das nächste Babyfenster mit einer Entfernung von über 90 Kilometern in Zollikerberg. Zu weit weg, findet SVP-Nationalrat Mike Egger. Bereits im Jahr 2013 verlangte der damalige Kantonsrat in einem Vorstoss die Einführung eines Babyfensters in der Ostschweiz. Dieser Vorstoss wurde von der Regierung abgelehnt. Es ist der einzige Vorstoss, der zu diesem Thema im Kanton St.Gallen eingereicht wurde. In der Antwort von 2013 wies die Regierung darauf hin, dass es bereits andere Angebote für Frauen in Not gebe.

«Im Kanton St.Gallen übernehmen die Beratungsstellen für Familienplanung, Schwangerschaft und Sexualität sowie die Mütter- und Väterberatungen die wichtige Funktion von niederschwelligen Beratungsangeboten», schreibt Fabienne Frei, stellvertretende Generalsekretärin des St.Galler Gesundheitsdepartements. Ausserdem würden Spitäler Frauen in einer Notlage vertrauliche Geburten anbieten.

Für Mike Egger ist das aber zu wenig: «Es darf nicht sein, dass ein Säugling im Abfall entsorgt wird.» Er werde sich deshalb weiterhin für ein Babyfenster in der Ostschweiz einsetzen: «Ich kann mir vorstellen, dass ich in nächster Zeit mit Kollegen aus dem Kantonsrat einen neuen Anlauf nehmen werde. Auch wenn es nicht viele Babys sind, die ausgesetzt werden, zählt jedes einzelne Leben, das durch ein Babyfenster gerettet werden kann.»

«Fälle wie derjenige in Bern müssen verhindert werden»

Auch Christoph Graf, Geschäftsführer der FDP St.Gallen, findet den Vorfall in Därstetten «schwer verkraftbar und sehr traurig». «Die Diskussion um eine Babyklappe oder andere geeignete Massnahmen muss sicher stattfinden.»

Für Patrick Dürr, Parteipräsident der CVP St.Gallen, gibt es eine bessere Lösung als das Babyfenster und das sei die vertrauliche Geburt, die in den Spitälern bereits möglich ist. «Eine Mutter, die ihr Kind aussetzten will, ist in höchster Not. Durch die vertrauliche Geburt wird beiden geholfen, der Mutter und dem Kind.»

Eine Mutter, die ihr Kind in einem Babyfenster deponiere, bekomme keine medizinische und psychologische Hilfe. «Wir von der CVP sind keine Befürworter von Babyfenstern, weil die Mutter dabei alleine gelassen wird. Solche Fälle, wie derjenige in Bern, müssen mit aller Macht verhindert werden.»

veröffentlicht: 8. Januar 2020 07:58
aktualisiert: 8. Januar 2020 09:35
Quelle: FM1Today

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