Kantonsgericht St.Gallen

Missbrauchsvorwürfe: Ex-Pfleger wird freigesprochen

26.02.2020, 11:02 Uhr
· Online seit 26.02.2020, 09:01 Uhr
Ein 55-Jähriger stand wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einer behinderten Frau im Berufungsprozess vor dem Kantonsgericht St.Gallen. Das Gericht gibt dem Beschuldigten recht, er wird freigesprochen.
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«Ich habe das nicht gemacht», sagte der Beschuldigte am Dienstag vor dem Kantonsgericht St.Gallen mit einer bestimmten Stimme. «Ich habe die Klägerin nie in das Pikettzimmer geholt.»

Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, eine heute 45-jährige Frau mit einer körperlichen und geistigen Behinderung während fast zwei Jahren sexuell missbraucht zu haben. Der heute 55-Jährige aus dem Kanton St.Gallen soll sie aufgefordert haben, sich nackt auszuziehen und sie dann zu sexuellen Handlungen gedrängt haben. Ausserdem soll der Beschuldigte von ihr verlangt haben, niemandem etwas davon zu erzählen. Die Frau erzählte ihrem Bruder nach einiger Zeit von den sexuellen Handlungen mit dem Betreuer, dann kam es zur Anklage.

Beschuldigter wird freigesprochen

Das Kreisgericht St.Gallen hatte im Juni 2018 den 55-Jährigen zu einer Freiheitsstrafe von 13 Monaten verurteilt, zwei Monate weniger als ursprünglich von der Staatsanwaltschaft gefordert. Der Angeklagte zog das Urteil weiter. Und so stand er am Dienstag vor dem Kantonsgericht und fordert einen vollumfänglichen Freispruch.

Diesen sprach ihm das Kantonsgericht zu. Der Angeklagte wird freigesprochen, er muss weder ins Gefängnis, noch muss er die Kosten für das Verfahren übernehmen. Noch ist der Freispruch allerdings nicht rechtskräftig, die Staatsanwaltschaft kann das Urteil noch weiterziehen.

Ex-Pfleger arbeitete über 20 Jahre in Heim

In den Publikumsrängen sassen am Dienstag nur drei Personen, die Frau und die beiden Töchter des Beschuldigten. Der Angeklagte sagte: «Sie (die Klägerin) hat sich immer gefreut mich zu sehen und es dann immer schlimm gefunden, wenn ich am Feierabend nach Hause zu meiner Familie gegangen bin.» Der 55-Jährige antwortet ruhig und sicher auf die Fragen des Vorsitzenden des Kantonsgerichts.

Der Beschuldigte arbeitete über 20 Jahre lang in einer Arbeits- und Wohngruppe für Menschen mit Wahrnehmungsstörungen, wo auch die Klägerin lebt. Er war zuerst Betreuer und bildete sich dann  zum Sozialpädagogen aus. Mehrere Jahre arbeitete er als Betreuer in ihrer Gruppe.  

Eine Zeugin, die während fünf Jahren in der Wohngruppe der Behinderten gearbeitet hat, bestätigt vor Gericht, dass die 44-Jährige den Beschuldigten offensichtlich immer gern gehabt hatte. 

«Ich habe mich von ihr distanziert»

Der Angeklagte führt weiter aus, dass es schwierig war, die Distanz zur 45-Jährigen zu bewahren. Unter anderem bezeichnete sie ihn als ihren Lieblingsbetreuer. «Als ich gemerkt habe, dass sie auf mich fixiert war, habe ich mich distanziert.» Der Angeklagte hat später dann auch die Wohngruppe gewechselt. «Die Klägerin hat mich anfangs aufgesucht und ist öfters in unsere Gruppe spaziert.» 

«Sie konnte sich wehren»

Auch die Zeugin und ehemalige Betreuerin der Behinderten sagt, es sei schwierig gewesen, Distanz zu ihr zu wahren. «Wenn ich am Morgen ins Heim gekommen bin, hat sie sich auf mich gestürzt und mir verschiedenste Sachen erzählt.» Die 45-Jährige könne aber auch stur sein, so die Zeugin: «Sie konnte sich auch wehren, zumindest, wenn ihr einer der Bewohner zu nahe kam.»

«Sie muss so etwas schon mal gesehen haben»

Die behinderte Frau habe oft Geschichten erfunden und mit Erlebtem verknüpft. Ihr Beistand hat sie vor Gericht vertreten und sagte: «Sie hat ihre Geschichten nie einfach aus der Luft gegriffen – doch sie konnte Ereignisse vermischen und zeitlich nicht mehr zuordnen.» Seine Stimme ist laut und bestimmt, es scheint, als sei auch Wut rauszuhören. Doch die «Geschichte» mit den sexuellen Übergriffen könne kaum erfunden sein. «Sie hat jetzt über zwei Jahre hinweg immer genau die gleiche Version erzählt.»

Der Angeklagte fügt hinzu, dass er oft in ihre Geschichten eingebaut worden war, die so nie passiert seien. Zu den Anschuldigungen gegen ihn sagt der Angeklagte: «Sie muss irgendwo etwas gesehen oder erlebt haben, dass sie mich beschuldigt.» Doch er beteuert auch, dass er sie nie sexuell missbraucht habe. 

Anwalt fordert Freispruch

Der Anwalt des 55-Jährigen forderte entsprechend, den Entscheid des Kreisgerichts aufzuheben. Der Beschuldigte sei von allen Punkten freizusprechen. Die Beweislage sei zu wenig belastend und «die Gutachterin sagte klipp und klar, wenn es so vorgefallen wäre, hätte sie sich wehren können», so der Anwalt des Beschuldigten.

Die Staatsanwaltschaft hielt an ihren Forderungen fest: «Den Entscheid des Kreisgerichts findet die Staatsanwaltschaft als erachtenswert.» Die sexuellen Übergriffe dürfe man nicht als eine ihrer Geschichten abstempeln, denn sie habe bei den Befragungen über zwei Jahre hinweg konstant die gleiche Version erzählt.

Das Kantonsgericht gibt letztlich dem Anwalt des 55-Jährigen recht und spricht den Pfleger frei.

veröffentlicht: 26. Februar 2020 09:01
aktualisiert: 26. Februar 2020 11:02
Quelle: FM1Today

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