St.Galler Amt für Jagd: «Der Wolf muss wieder scheu werden»
Quelle: FM1Today/Thomas Bartlome/Tim Allenspach
Der Wolf in der Schweiz erregt die Gemüter. Die Meldungen von Rissen nehmen zu, die Forderungen nach dem Abschuss werden lauter. So auch nach dem Riss im St.Galler Calfeisental von vergangener Woche. Doch wie schlimm ist die Lage? Und wie sieht es in Zukunft aus? Dominik Thiel, Leiter des Amts für Natur, Jagd und Fischerei des Kantons St.Gallen, klärt auf.
Wird es in Zukunft mehr Wölfe in der Schweiz geben?
Dominik Thiel: Erfahrungsgemäss dürfte die Wolfspopulation jährlich um 30 Prozent
wachsen. Momentan hat es noch genügend Nahrung und Platz und der Eingriff durch
den Menschen ist gesetzesbedingt noch gering. Darum rechnen wir in den nächsten
Jahren mit einem deutlichen Zuwachs.
Was beeinflusst oder stoppt den Zuwachs?
Es gibt eine ökologische Kapazitätsgrenze. Das heisst, ab einem
gewissen Punkt hat der Wolf keine Nahrung mehr und die innerartliche Konkurrenz
wird grösser. Also die Rudel fangen an sich zu konkurrenzieren oder töten sich
gar gegenseitig. Dann gibt es noch die sozio-ökonomische Grenze: Wie lange ist
es für den Mensch tolerierbar. Und diese Grenze ist deutlich tiefer.
Wie meinen Sie das?
Wir sehen heute schon die grossen Herausforderungen, die wir mit dem
Wolf in unserer Kulturlandschaft haben. Momentan gibt es in der Schweiz 16
Rudel, es hätte aber Nahrung für mehr. Wenn das so weitergeht, werden die
Nutzungskonflikte nur grösser.
Was denken Sie, welche Grenze wird zuerst erreicht: die ökologische oder die sozioökonomische?
Ich denke, dass es eine Mischung aus beiden sein wird – und es wird
regionale Unterschiede geben. In den grossen abgelegenen Gebieten, die noch
einen grossen Wildbestand haben, werden sich die Rudel entwickeln. In anderen
Gebieten, wie beispielsweise in den Berggebieten und den Voralpen-Regionen,
muss der Mensch vermutlich früher eingreifen.
Wird sich der Wolf weiter ausbreiten? Steigt der Druck aufs Flach- und
Mittelland?
Der Druck wird steigen. Das ist das Ausbreitungsverhalten einer
Wildtierart. Ähnliches können wir momentan beim Hirsch beobachten. Zuerst
werden die guten, eher entlegenen Gebiete besiedelt. Ist die Dichte dort zu
hoch, kommen sie in die weniger geeigneten Gebiete. Das bedeutet: Je mehr Wölfe
es hat, desto eher werden sie auch im Flachland anzutreffen sein. Je näher der Wolf
am Menschen ist, desto grösser werden die Konflikte. Aber auch die
Sterblichkeit des Wolfes wird zunehmen, beispielsweise durch den
Strassenverkehr, der regulierend wirken könnte.
Wie schätzen Sie das Zusammenleben mit dem Wolf ein?
Das Zusammenleben mit dem Wolf ist aus verschiedenen Gründen
herausfordernd. Zum einen ist da die Angst vor dem Tier – es ist ein grosses
Raubtier. Zum anderen gibt es grosse Konflikte mit der Landwirtschaft durch die
Nutztier-Risse. Aber auch die Herdenschutzmassnahmen können zu Konflikten beim
Tourismus führen. Fakt ist: Je mehr Wölfe, desto mehr Kontakt mit Menschen. Der
Ruf nach Regulation dürfte dann lauter werden.
Sie sprechen die Regulation an. Ab wann lohnt sich diese?
Der Wolf ist eine geschützte Tierart und hat per Gesetz ein
Lebensrecht. Regulationen sind nur im gewissen Masse erlaubt. Die jetzigen
Mittel dürften nicht reichen, um das Wachstum der Population zu bremsen.
Eine erneute Ausrottung wird es also nicht geben?
Das kann ich mir mit der jetzigen Gesetzgebung nicht vorstellen. Aber
wir wissen nicht, wie es weitergeht – und beim Wolf gab es immer grosse
Überraschungen. Auch bei den Verhaltensprognosen ist es an vielen Orten anders
gekommen, als es man erwartet hatte.
Wie kann denn ein Zusammenleben funktionieren?
Der Wolf muss sich mit uns arrangieren, respektive wir mit ihm. Das
bedeutet, dass der Wolf wieder scheu werden muss. Momentan ist er das in
gewissen Gebieten nicht. Ein Wolf, der den Menschen fürchtet und sich von Wildtieren
ernährt, kann auch in Zukunft in der Kulturlandschaft überleben.
Wie kann man denn einen Wolf scheu machen?
In dem man ihn abschiesst. Nur so lernt der Wolf, dass der Mensch
gefährlich ist.
Wie kann der Wolf das merken?
Wölfe sind sehr intelligente und soziale Tiere. Sie schauen sich Dinge
ab und können aus Erfahrungen lernen. Wenn ein Rudel von Menschen bedroht oder
gar Tiere geschossen werden, dann können sie sich das merken. Sie sind
lernfähig. Das sehen wir jetzt auch an ihrem Jagdverhalten. Die Wölfe lernen
nun, wie man beispielsweise Kühe angreift. Ist dies erfolgreich, werden sie
dies auch öfters tun. Mit unseren Instrumenten können wir das Verhalten des
Wolfes steuern.
Sie haben das Jagdverhalten angesprochen. Was sind die Gründe dafür,
dass der Wolf nicht Wildtiere angreift?
Der Wolf ist ein Opportunist. Er geht den Weg des geringsten
Widerstandes, um an Nahrung zu gelangen. Ein Wolf braucht etwa fünf Kilogramm
Fleisch pro Tag. Wenn er merkt, dass er Rind reissen kann, und so mehr Nahrung
erhält und keine Konsequenzen drohen, dann wird er dies auch vermehrt tun.
Ist es denn so abnormal, dass ein Wolf ein grosses Nutztier reisst?
Aussergewöhnlich ist es nicht, aber unerwünscht. Und der Wolf wird
sich dort Nahrung beschaffen, wo es am einfachsten ist.
Wird das Verhalten denn vererbt?
Nein, vererbt wird es nicht, aber weitergegeben. Die Elterntiere geben
ihr Verhalten an die Jungen weiter. Dafür gibt es auch in der Schweiz genügend
Beispiele.
(red.)