Es ist tiefste Nacht, es regnet. Ein Mann fährt mit seinem Auto auf der Autobahn A1 Richtung St.Gallen. Plötzlich kracht es – ein Unfall mit fatalen Folgen. Genau in solchen Situationen wird das Care Team aufgeboten. Die Mitglieder leisten psychologische Erste Hilfe für Augenzeugen, Angehörige und Betroffene, sofern diese das Angebot in Anspruch nehmen wollen. Doch wie läuft diese Arbeit ab? Welche Herausforderungen erwarten einen sogenannten Care Giver in solchen Situationen? Und wie gehen sie selbst damit um? Wir haben diese Fragen Madlaina Bischoff, Co-Leiterin der Region 1 der Psychologischen Ersten Hilfe des Kantons St.Gallen, gestellt.
Madlaina Bischoff, was muss ein Care Giver mitbringen? Sind
das alles Psychologinnen und Psychologen?
Nein, unsere Teammitglieder kommen aus verschiedenen Sparten.
Viele kommen aus sozialen Berufen, dies ist aber nicht zwingend. Gute soziale und kommunikative Kompetenzen sind jedoch eine Voraussetzung für die Aufnahme ins Care Team. In einem fünftägigen Grundkurs wird dann das spezifische Wissen für die Funktion des Care Givers vermittelt. Zudem
gibt es jährlich zwei obligatorische Weiterbildungstage, in denen das Wissen noch vertieft wird. Das Care Team des Kantons St.Gallen ist eine Milizorganisation, die auf freiwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Nebenamt angewiesen ist.
Also kann eigentlich jede und jeder, die oder der sich dazu in der Lage fühlt, Care Giver werden?
Nicht unbedingt. Zum einen muss der Arbeitgeber damit einverstanden sein, dass die oder der Angestellte während der Pikettzeit in den Einsatz geht. Zum anderen braucht es auch eine gewisse Reife, um mit solchen Situationen umgehen zu können und vor allem auch authentisch im Einsatz zu sein.
Ihre Arbeit klingt sehr emotional, intim und intensiv.
Welche Herausforderungen bringen solche Einsätze mit sich?
Vorneweg: Kein Einsatz ist wie der andere. Care Giver können beispielsweise nach einem Suizid, bei einer Naturkatastrophe oder Arbeitsunfällen zum Einsatz kommen. Darum ist es
auch wichtig, dass man eine gute Vorbereitung und Ausbildung hat, da die
Ereignisse so vielfältig sind. Weiter ist Empathie sehr wichtig und dass man
sich flexibel auf die jeweiligen Situationen einlassen kann.
Diese Ereignisse sind ja auch eine Belastung für die Care
Giver selbst. Gibt es da Schutzmechanismen – oder wie muss man sich das
vorstellen?
Vor jedem Einsatz fragen wir vom Kader als erstes, ob sich der Care Giver einsatzfähig fühlt. Denn gewisse Ereignisse können zu einer Überforderung führen. Beispielsweise, wenn ein Kind verstorben ist, welches im gleichen Alter ist, wie das eigene. In solchen Fällen kann es sein, dass wir dann
eine andere Person aufbieten. Der Selbstschutz ist in dieser Arbeit von zentraler Bedeutung. Das heisst: auf sich selber hören, die eigene Grenzen kennen und akzeptieren zu können. Ich muss mit allem, was ich habe und kann, parat sein. Dann bin ich als Care Giver einsatzfähig. Auch im Nachgang des Ereignisses sprechen wir nochmals mit dem Care Giver. Zudem können sie jederzeit eine Supervision in Anspruch nehmen und mehrmals im Jahr gibt es eine Gruppensitzung mit den anderen Care Givern, in der die Einsätze besprochen und aufgearbeitet werden können. Und natürlich hat jede und jeder seine eigenen Rituale, um die Situation zu verarbeiten.
Rituale?
Ja, die können ganz unterschiedlich sein. Es gibt Leute, die trinken eine heisse Schoggi nach dem Einsatz, weil sie das beruhigt. Andere gehen duschen, wechseln bewusst ihre Kleidung oder hören ihre Lieblingsmusik. Und diese Rituale sind enorm wichtig, um wieder in den eigenen Alltag zu finden und die Distanz zum Ereignis zu schaffen.
Meistens spricht man ja mit seinem Umfeld über Dinge, die einen belasten. Für Care Giver ist das wohl schwierig.
Jein. Wir unterliegen der Schweigepflicht. Wir dürfen also nur das kommunizieren, was die Polizei öffentlich macht und die Medien wissen. Alles andere untersteht dieser Schweigepflicht. Aber ja, der Austausch ist wichtig. Dieser findet aber im Team und in den Supervisionen statt.
Nehmen wir an, es ist jetzt ein Einsatz und Sie sind vor
Ort. Was passiert nun?
Als erstes informiert uns die Kantonale Notrufzentrale und dann die Einsatzleitung vor Ort über das Ereignis.
Das ist wichtig, weil klare, verlässliche Information Sicherheit gibt. Diese Informationen können wir dann
den Betroffenen weitergeben, damit sie ebenfalls Klarheit zum Ereignis gewinnen können. Dies kann den Betroffenen helfen, das Kopfkino zu stoppen, welches in solchen Situationen oft verrücktspielt. Danach ist
unsere Hauptaufgabe eigentlich, Ordnung ins Chaos zu bringen, Brücken zu bauen und Ressourcen zu aktivieren.
Das klingt jetzt aber sehr allgemein. Wie meinen Sie das?
Als erstes versuchen wir beispielsweise bei einem Unfall, die Person an einen ruhigeren Ort zu bringen. Zudem schauen wir, wer aus dem sozialen Umfeld der Betroffenen verfügbar ist. Wir versuchen, Struktur zu geben. Zum Beispiel, wie der restliche Tag abläuft. Dabei machen wir eine Einschätzung der Belastung. Was braucht die Person? Ist sie vorbelastet? Ist sie psychisch stabil? Wir schätzen also das Risiko und die Ressourcen ab und evaluieren, was die Person für eine möglichst gesunde Bewältigung benötigt. Denn die Betroffenen können in diesem Moment eine sehr hohe emotionale Belastung haben. Die Aufgabe des Care Givers ist es, die heftigen Gefühle einzuordnen, zu normalisieren. Denn in solchen Situationen darf man neben den Schuhen stehen – auch über mehrere Tage hinweg. Und natürlich hören wir der Person
zu und zeigen auf, welche Personen aus dem Umfeld in Anspruch genommen werden können.
Haben Sie jetzt absichtlich zuhören und nicht reden gesagt?
Ja, denn nicht jede Person hat das Bedürfnis, über das
Ereignis zu sprechen. Über das Geschehene zu sprechen, kann retraumatisierend sein.
Darum brauchen wir hier auch viel Fingerspitzengefühl, um zu spüren, ob jemand
Bedarf hat und dies förderlich für sie oder ihn ist, oder nicht.
Ich nehme an, Ihre Arbeit ist nach dem ersten Einsatz noch nicht getan, wie geht es nachher weiter?
Wir wissen, dass sich bei vielen Betroffenen innerhalb von vier Wochen das Stressniveau wieder normalisiert. Normalerweise sind wir die ersten sieben bis zehn Tage mit den Betroffenen im engen Kontakt. Im Verlauf dieser Zeit führen wir eine telefonische oder persönliche Nachfrage durch. Da schauen wir, ob die Dinge, die wir der Person mitgegeben haben, auch aufgegriffen werden können oder noch Fragen aufgetaucht sind, die wir klären können. Normalerweise ist es aber so, dass wir Menschen gute heilende innere Kräfte haben, die wirken. Wenn wir merken, dass dies nicht der Fall ist, werden wir aktiv und verweisen die Person an einen Psychologen oder Arzt.
Bei einem solchen Einsatz können Betroffene ja eine Reihe von Emotionen durchleben. Wut, Angst, Trauer – wie stellt man sich auf sowas ein?
Ja genau, es ist die ganze Palette an Emotionen. Für uns ist dies «normal», respektive wir sind auf diese Situation vorbereitet. Grundsätzlich kann man aber sagen, dass es gut ist, wenn wir sehen, dass die Leute emotional werden. Beunruhigender ist es, wenn Leute einfach still sind. Dann muss der Care Giver auch genauer hinsehen. In unserer Arbeit gehört es dazu, die Menschen zu ermutigen, Gefühle zuzulassen. Also wenn jemand schreien will, dann soll er das tun. Wenn jemand weinen will, ebenso. Das gehört zum Prozess dazu. Schwieriger ist es, wenn Angehörige der Betroffenen dieses Bedürfnis nicht nachvollziehen können
oder sich wegen der starken Gefühle, die geäussert werden, zurückziehen.
Wie meinen Sie das?
Oftmals müssen wir ihnen erklären, dass man diese Emotionen haben darf oder gar haben muss. Das gehört zum Verarbeitungsprozess dazu. Wenn jemand beispielsweise sein Kind verliert, dann darf er auch mehrere Stunden schreien. Denn dieser Umstand ist in diesem Moment weder vorstell- noch fassbar. Und dort sprechen wir dann auch mit den Angehörigen, wie sie damit umgehen können, denn jede und jeder reagiert anders auf ein traumatisches Erlebnis.
Sie helfen den Betroffenen ja durch eine schwierige Zeit. Sind die Menschen dankbar?
Ja, sehr! Die Dankbarkeit ist extrem gross. Die Betroffenen erzählen uns oft, dass ihnen unsere Arbeit geholfen hat, die Situation durchzustehen und Klarheit über die nächsten Schritte zu gewinnen. Denn es sei wichtig, von einem Aussenstehenden zu hören, dass die eigenen Gefühle, Gedanken und Reaktionen in einer solchen Situation normal sind.
Trotz der Dankbarkeit: Das ist wohl auch ein Knochenjob. Denn irgendwann mitten in der Nacht aufzustehen und dann mit Leuten über einen Verlust zu sprechen, ist nicht einfach. Warum tut man sich das an?
Ich denke, dass wir Menschen uns gegenseitig brauchen, um solche ausserordentlichen Situationen zu meistern. Aber es ist auch klar, dass nicht alle das können. Ich glaube, dass alle Personen in unserem Team von der Persönlichkeit her eine gewisse Stärke haben, darum können sie auch diese Tätigkeit ausüben. Gleichzeitig ist es eher ein temporäres Tätigkeitsfeld. Kaum einer macht das 20 Jahre lang. Ich denke, es ist eine Lebensphase, in der man die Stärke hat, anderen zu helfen.
Jetzt kann es ja sein, dass eine betroffene Person nicht über einen Verlust hinweg kommt. Erachtet der Care Giver dann seine Arbeit als gescheitert?
Gute Frage. Nein, ich denke nicht. Mir ist es bis jetzt nicht zu Ohren gekommen, dass ein Care Giver solche Gedanken gehabt hätte. Wenn, dann hinterfragt er sich professionell: Habe ich die Risiken und Ressourcen richtig eingeschätzt? Diese Frage muss sie oder er sich stellen. Grundsätzlich leisten wir Hilfe zur Selbsthilfe – und diese kann angenommen werden, oder eben nicht. Nicht alle Menschen sind gleich und ein gewisser Prozentsatz wird eine posttraumatische Belastungsstörung haben oder eine komplizierte Trauer entwickeln. Solche Verläufe gibt es. Wir geben Betroffenen von solchen
Verläufen in unserem Flyer Adressen an die Hand, bei denen sie professionelle,
fachliche Unterstützung erhalten.