Aggressive Kinder

«Übertriebene Aggressionen fordern konsequente Reaktionen»

11.08.2020, 14:43 Uhr
· Online seit 11.08.2020, 14:29 Uhr
Die Kantone Thurgau und St.Gallen vermelden, dass Kindergartenkinder vermehrt aggressives Verhalten an den Tag legen. Ein Experte klärt auf, wo der Ursprung für dieses Verhalten liegt und was die sprachliche Entwicklung damit zu tun hat.
Anzeige

Kindergartenkinder würden immer schneller auf Lehrpersonen losgehen, heisst es von den Kantonen Thurgau und St.Gallen (FM1Today berichtete). Ralph Wettach, Direktor des Schulpsychologischen Dienstes des Kantons St.Gallen, erklärt, wie es dazu kommen kann.

«Familie und Spielgruppe sind optimale Übungsfelder»

«Alle Kleinkinder müssen lernen, ihre aggressiven Impulse zu kontrollieren und sozial angemessen zu zeigen», sagt Ralph Wettach. Dafür sei es wichtig, dass sie auf übertriebene Aggressionen sofortige und konsequente Reaktionen aus dem Umfeld erhalten. «Durch diese Rückmeldungen können sie ihr Verhalten anpassen und die Empathie wird gefördert.» Optimale Übungsfelder vor dem Kindergarten seien die Familie aber auch beispielsweise Spielgruppen.

Ein Problem des Lernens der Aggressionskontrolle sei, dass Aggression sogenannt «selbstbelohnend» ist, sagt Ralph Wettach: «Wenn ein Kind einem anderen Kind im Sandkasten ohne Konsequenzen den Lastwagen wegnimmt und mit ihm spielen kann, wird es für seine Aggressivität ‹belohnt›, denn es hat ja nun den Lastwagen. Wenn dies immer wieder passiert, dann lernt das Kind nicht, seine Aggression zu kontrollieren, sondern diese für seinen eigenen Nutzen und zum Schaden Anderer einzusetzen.» Zudem bestehe somit die Möglichkeit, dass andere Kinder dieses Verhalten nachahmen.

Sprache als Ventil für Aggressionen

Die frühe Förderung insbesondere von benachteiligten Kindern habe in der Schweiz noch grosses Potenzial, beispielsweise mit Programmen zu sozialen Fertigkeiten, zur Erziehungskompetenz oder zur Sprachentwicklung, sagt Wettach. Die sprachliche Entwicklung könne besondere Auswirkungen auf das Aggressionspotenzial bei kleineren Kindern haben: «Kinder mit eingeschränkter Sprachentwicklung oder organischen Beeinträchtigungen beim Sprechen haben dann nur begrenzte Möglichkeiten, ihren Aggressionen über die Sprache Ausdruck zu verleihen und neigen dann eher zu offener, direkter Gewalt», schreibt Oliver Bilke-Hentsch von der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie.

Auch Jennifer Siegrist, Präsidentin der Kantonalen Kindergartenkonferenz St.Gallen, sieht Potenzial in der sprachlichen Förderung: «Die Kinder haben ihre Impulse noch nicht so im Griff, werden schneller hässig oder traurig. Sie sind kognitiv noch nicht auf dem Stand, Konflikte verbal zu lösen. Dabei muss das Lehrpersonal unterstützen.»

Keine allgemeine Steigerung der Aggression feststellbar

Dass Kindergartenkinder im Allgemeinen aggressiver sind als früher, kann Ralph Wettach nicht bestätigen, zuverlässige Zahlen seien dem Schulpsychologischen Dienst nicht bekannt. «Gemäss unseren Erfahrungen sind die Kindergartenkinder im Durchschnitt nicht aggressiver als früher.» Die Zahl der Anmeldungen der Kindergartenkinder sei in den letzten zehn Jahren stabil geblieben. «Aber es gibt vermehrt einzelne Kinder, die die Regelschule an die Grenze bringen und viel Aufmerksamkeit und Zeit benötigen.»

veröffentlicht: 11. August 2020 14:29
aktualisiert: 11. August 2020 14:43
Quelle: FM1Today

Anzeige
Anzeige