St.Gallen

Vom Bünzli zum Freigeist: Dieser 77-Jährige repariert (fast) alles

02.10.2020, 15:02 Uhr
· Online seit 26.09.2020, 09:20 Uhr
Ruedi Brunner hat ein abwechslungs- und ereignisreiches Leben. Vom Tessin fand er via Argentinien vor 16 Jahren den Weg nach St.Gallen. Die grosse Konstante in seinem Leben: Sachen flicken. Wir haben dem Reparatur-Meister einen Besuch abgestattet.
Nico Conzett
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In Ruedi Brunners Reparaturzentrum in St.Gallen stehen Kaffeemaschinen, Stereoanlagen aber auch Wanduhren oder uralte Musikboxen mit Schallplatten. Gemeinsam haben all diese Dinge, dass sie reparaturbedürftig sind. Um wieder funktionstüchtig zu werden, sind sie genau am richtigen Ort.

Denn es gibt kaum einen technischen Gegenstand, den Ruedi Brunner nicht reparieren kann. Zumindest lässt er nichts unversucht.

Die grössten Herausforderungen sind sehr alte Dinge, für die es keine Ersatzteile mehr auf dem Markt gibt. «Kürzlich hat eine Frau ein 50-jähriges Bügeleisen vorbei gebracht, an welchem sie sehr hängt. Für dieses Modell werden schon lange keine Ersatzteile mehr hergestellt.» Was dann? «Dann kaufe ich die gleichen alten Modelle zusammen. Aus fünf wird dann eines. Das ist doch perfekt, dann waren die anderen auch noch zu etwas gut, bevor sie im Abfall landen.»

Kritik an Einstellung der Gesellschaft

Dass die Dinge eben nicht direkt im Abfall landen, ist ein grosses Anliegen Brunners. Der 77-Jährige nennt zwei Gründe, wieso er sein Reparaturzentrum betreibt. Einerseits wegen des Einkommens, dazu später mehr. Aber vor allem um «etwas für die zu Umwelt tun.» Er ist überhaupt nicht einverstanden mit der Mentalität, die heutzutage viele Menschen zeigen: «Wenn etwas kaputt ist, wird es weggeworfen.»

Viele technische Geräte seien heute sogar genau darauf ausgelegt. «Eine Reparatur von modernen Geräten ist manchmal gar nicht mehr möglich oder dann teurer als ein neues Produkt», bedauert er. Oft sei nur schon der Kostenvoranschlag für eine Reparatur so teuer, dass sich viele Leute beinahe gezwungenermassen entscheiden müssten, ein neues Gerät zu kaufen. Und den defekten Vorgänger entsprechend zu «kübeln».

Ein spezielles Motto

Aus diesem Grund verzichtet er konsequent darauf, seinen Kunden etwas für einen Kostenvoranschlag in Rechnung zu stellen. «Bei mir kann man das Gerät einfach vorbeibringen, ich schaue es an und sage, ob ich es reparieren kann», erklärt er. Hält er eine Reparatur für unmöglich oder tatsächlich für nicht mehr sinnvoll, kostet der ganze Prozess nichts.

Und die unentgeltlichen Kostenvoranschläge haben sich mittlerweile ein wenig zu seinem Motto entwickelt. Beispielsweise bei seiner Website, die simpel "kostenvoranschlaggratis" heisst.

Vom Bünzli zum Freigeist

Unkompliziert und einfach soll es im Reparaturzentrum zu- und hergehen. Eigenschaften, die sich schon länger durch das Leben des 77-Jährigen ziehen. «Ich hätte kein Problem, meine Sachen zu packen und morgen nach China zu ziehen», sagt Brunner, «oder nach Paraguay oder Japan.» Eigentlich hindere ihn nur seine Frau daran, dies in die Tat umzusetzen, sagt er schmunzelnd.

Doch wie hat sich der Mann, der von sich selbst sagt, dass er die erste Hälfte seines bisherigen Lebens ein «typischer Bünzli-Schweizer» gewesen sei, zum «idealistischen Querulanten» entwickelt? So bezeichnet er sich nämlich heute, wenn auch mit einem Lachen.

Prägende Zeit in Südamerika

Als gelernter Schreibmaschinenmechaniker hat Brunner bis 1980 in Zürich und im Tessin gearbeitet, ehe er sich für einen radikalen Schritt entschied: «Ich hatte genug davon, dass Leute mit meiner Arbeit mehr Geld verdienen, als ihnen zusteht.»

Daraufhin hat er seine Sachen gepackt und ist nach Argentinien ausgewandert, in das Land, in dem seine damalige Frau aufgewachsen ist. «Wir waren dort an Weihnachten zu Besuch und mir hat es gefallen, denn dort ist man im Vergleich zur Schweiz frei.» Er will diese Aussage nicht in erster Linie als Kritik an der Schweizer Leistungsgesellschaft verstanden haben, denn: «Leisten muss man auch dort, sonst kann man gar nicht existieren.» Die Leute würden oft von der Hand in den Mund leben, trotzdem seien sie glücklicher als hier.

Die Freiheit und ihre Schattenseiten

Gefallen hat ihm vor allem auch, dass es viel weniger Eingriffe durch den Staat gibt. So zum Beispiel kein Bauamt, dass beim Umbau Vorschriften macht. «Ich habe für 10'000 Dollar ein Haus gekauft und dann konnte ich dort machen was ich wollte.»

Ihm ist aber auch bewusst, dass der kaum spürbare Staat einige Schattenseiten mit sich bringt. So gäbe es keine verlässliche Sozialhilfe, was wiederum ein Grund für hohe Kriminalität sei, weil die Leute ja irgendwie überleben müssen. Das wiederum ist der Hauptgrund für seine Rückkehr in die Schweiz: «Gerade ältere Leute werden dort häufig über den Tisch gezogen.»

Beruf und Hobby zugleich

Wo auch immer Brunner in seinem Leben war, seinen Lebensunterhalt hat er stets mit Reparaturen bestritten. Damit zum zweiten, weniger erfreulichen Grund, wieso er mit 77 Jahren immer noch in seinem Reparaturzentrum arbeitet: Da er in seiner Zeit in Argentinien jeweils nur den AHV-Minimalbetrag einzahlen konnte, reiche die Rente kaum aus für ein anständiges Leben.

Mit seiner Arbeit und dem Einkommen seiner Frau, die als Pflegefachfrau arbeitet, kämen sie aber gut über die Runden. Und glücklicherweise sind die Reparaturen für ihn auch keine Arbeit im herkömmlichen Sinne. Denn auf die Frage, was er in seiner Freizeit mache, erwidert er grinsend: «Meine Frau verbietet mir, dass ich am Samstag und Sonntag auch noch hierherkomme.»

Und das hat durchaus Berechtigung, wie er zugibt. Er verbringt nämlich praktisch jede freie Minute in der Werkstatt. Einerseits aus Leidenschaft, aber ebenso aus Überzeugung.

Denn genau so entschlossen wie Brunner damals die Entscheidung getroffen hat, die Schweiz zu verlassen, so entschlossen ist er heute, dass er etwas gegen die Wegwerfmentalität der Gesellschaft machen will.

veröffentlicht: 26. September 2020 09:20
aktualisiert: 2. Oktober 2020 15:02
Quelle: FM1Today

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