182 Tage Lebenskampf

«Wir planen unsere Tage, als wäre Marco nicht da»

· Online seit 15.02.2022, 07:43 Uhr
Marco Schwinger hat im Juni die fremden Stammzellen transplantiert bekommen. Wenige Wochen nach dem Eingriff darf er nach Hause. Sein Zustand gleicht einer Achterbahnfahrt: Mal geht es ihm gut, mal schlecht. Jetzt ist Geduld gefragt. Teil 2 von 3.

Quelle: Krisztina Scherrer/FM1Today

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Marco darf nicht nach draussen, wenn die Sonne scheint. Die UV-Strahlen könnten seiner empfindlichen Haut schaden. «Zu Hause überfällt mich Müdigkeit, sodass ich mich hinlege und schnell einschlafe», sagt er. Wenn er ein bisschen spazieren gehen könnte, wäre er nicht so müde. Er muss täglich viele Medikamente einnehmen. Unter den Medikamenten sind Immunsuppressiva, die das Immunsystem stark herunterfahren. Deshalb muss er zweimal die Woche nach Zürich fahren für einen Untersuch. Dort werden Leber, Nieren und Blut getestet.

Die Zeit des Nichtstuns ist nicht nur für Marco anstrengend. Die Ungewissheit, ob sein Körper die Transplantation gut übersteht, ist für seine Familie herausfordernd. «Die Kinder verstehen meine Krankheitsgeschichte gut. Sie sind schon vier Jahre dabei. Sie wissen, wieso ich eine Glatze habe. Wir erklären ihnen dann immer was kommt, zum Beispiel wieso der Papi müde ist. Das machen sie wirklich gut», sagt Marco.

«Wir planen unsere Tage, als wäre Marco nicht da»

«Heute geht es mir besser. Letzte Woche hätte ich nicht mit dir telefonieren können, da wäre es mir schlecht geworden», sagt Gaby am Telefon. Die 39-Jährige ist seit sechs Jahren mit ihm verheiratet. Es ist Juli 2021, Tag 35 für Marco. Gabys Eindruck bestätigt sich in einem Telefonat, das ich mit Marco hatte. Seine Stimme war deutlich schlechter als sonst, er hatte Mühe zu sprechen. «Ich hatte eine strenge Nacht und konnte nicht schlafen», sagte er. Nebst dem Virus und den Bakterien hatte er offene Stellen im Mund. Dies hörte man.

Ein Treffen mit Gaby ist derzeit schwierig, sie muss auf die Kinder aufpassen, den Haushalt schmeissen und hat Termine. Deshalb telefonieren wir und sie erzählt mir, wie sie mit der ganzen Situation zurechtkommt. «Wir planen unsere Tage, als wäre er nicht da. Er kann ja nichts unternehmen und nur daheim sitzen», sagt sie. Zum Glück regne es so viel. Dann könne er ab und zu einen Spaziergang machen. «Im Haushalt rechne ich nicht mit seiner Hilfe. Wenn er kocht, braucht er danach ein paar Stunden Schlaf. Wenn er helfen kann, ist es super und sonst auch nicht so tragisch. Jetzt soll er gesund werden und sich erholen.»

Als Marco das dritte Mal die Diagnose Lymphdrüsenkrebs erhielt, habe es ihr den Boden unter den Füssen weggezogen. «Ich dachte: Jetzt ist es aus, das schaffen wir nicht nochmal.» Jedes Mal, als der Krebs zurückkam, kostete es viel, bis sich die Familie wieder aufraffen konnte. «Wir waren eine Woche erledigt. Wieder mussten wir unseren Optimismus finden und positiv denken.»

Die Herausforderungen, die eine solche Krankheit mit sich bringt, sind enorm – aber zu meistern. Wenn Gaby zweifelt, sagt Marco: «Wir haben schon so viel geschafft. Das geht jetzt auch noch.» Beim Umgang miteinander sei es wichtig, ehrlich zu sein. «Wir sagen uns alles: Wenn Marco Symptome hat oder ich mir Sorgen mache. Es ist schwierig, es dem andern zu sagen, wenn es einem selbst schlecht geht», sagt Gaby. Aber niemand müsse das alleine tragen. «Wir stehen das gemeinsam durch.» Gaby hat ihre Bedürfnisse zurückgesteckt. «Das ist kein Vorwurf oder negativ gemeint. Aber der Fokus liegt auf Marco und ich gebe alles, dass es ihm gut geht.»

Bei der ersten Diagnose war Gaby schwanger mit Milo. «Wir wussten, dass wir Hilfe brauchen werden. Mittlerweile haben wir ein gutes Netzwerk. Freunde, die mitten in der Nacht für uns aufstehen und uns überall hinfahren. Oder unsere Eltern, die immer da sind und helfen.» Ohne sie ginge es nicht. «Es braucht viel, bis man sich eingesteht: ‹Läck, jetzt schaff‘ ich es nicht mehr alleine.›» Kraft geben Gaby auch ihre Kinder. Iva und Milo. «Sie sind so erfrischend, fröhlich und unbekümmert.»

Arbeiten, putzen, kochen, Kinder betreuen

Während Marcos Spitalaufenthalt unterrichtet Gaby wöchentlich fünf Lektionen in der dritten Klasse: Musik, Turnen und Checkpoint – dort können die Kinder spielen und für sich üben und lernen. Immer am Donnerstag. Die restlichen Wochentage derselbe Turnus: Sie bringt Iva in den Kindergarten, geht einkaufen, macht den Haushalt. Am Mittag kocht sie, holt die Tochter wieder ab und dann geht es mit dem Zug nach Zürich. Die Kinder werden in dieser Zeit von den Babysitterinnen oder den Grosseltern betreut. Länger als zwei Stunden kann sie nicht bei Marco bleiben, denn sie will die Kinder selber zu Bett bringen, wenn ja der Papi schon fehlt. Es gab ihr Kraft, dass er früher nach Hause konnte. Aber: «Sein Zustand stagniert. Es läuft nicht so, wie wir uns das erhofft haben. Es hilft mir, rauszugehen, mich abzulenken, die Sonne und frische Luft zu geniessen.»

Auch ich brauche eine Pause. Ich wollte nie Teil von Marcos Geschichte sein, mich nicht erwähnen. Doch nach dem Gespräch mit Gaby merke ich: Ich muss. Die Situation um Marcos Gesundheit fordert mich nicht nur beim Schreiben, sondern auch als Mensch. Ich habe meine Routinen: Gehe einkaufen, arbeiten, mit Freunden etwas trinken oder an ein Konzert. Ich mache Sport, besuche meine Familie, lerne neue Leute kennen. Ich bin nicht eingeschränkt, kann tun und lassen, was ich will. Marco kann und darf das alles gerade nicht.

Gaby kämpft seit vier Jahren um ihren Ehemann, um sein Leben. Das Gespräch mit ihr geht mir nahe. Ich habe mir vorgestellt, wie es mir wohl ginge, wenn ich um einen geliebten Menschen so bangen müsste. Es würde mich zerreissen. Marco ist immer so positiv, ich wollte mir nicht eingestehen, in was für einer ernsten Lage er sich befindet. Ich habe mich von seinem Optimismus anstecken lassen und die negativen Konsequenzen seiner Krankheit verdrängt. Ausgeblendet, weil es nicht in meinen Kopf ging, dass sich eine solch hässliche und böse Krankheit an einen so positiven Mann heftet. Ich brauche Abstand.

Tag 59. Nach drei Wochen Funkstille hören wir uns Anfang August wieder.

«Es ist ein Auf und Ab»

Marcos erste Wochen zu Hause gleichen einer Achterbahnfahrt. Mal schiesst sein Zustand mit 150 Stundenkilometern in die Höhe, er hat Energieschübe, macht Sport, hilft im Haushalt – kämpft gegen die Müdigkeit an. Und am nächsten Tag rast sein Befinden mit 200 Kilometern pro Stunde in Richtung Erde, prallt ohne Vorwarnung – aber mit einem grossen Knall – auf dem Boden auf. Er ist immer noch zu Hause, darf niemanden sehen, ausser seiner Frau, die Kinder und die Babysitterinnen. Er ist Patient. Seit vier Jahren. Und erst jetzt beginne ich zu realisieren, was das bedeutet.

Alles kann gefährlich sein: «Ich habe immer noch den Husten und Pfnüsel. Die Ärzte hatten Angst, dass es Corona sein könnte. Das wäre sehr gefährlich, weil die Lunge bei mir am anfälligsten ist. Ich hatte schon zwei Lungenentzündungen», sagt er. «Eine davon war schlimm und lebensbedrohlich.» Der Mann kämpft nicht nur seit vier Jahren gegen einen tödlichen Tumor, er ist auch schon fast an einer Lungenentzündung gestorben. «Es kommt immer mehr dazu, und nichts geht weg, das gurkt mich an.»

Angurken. Ein Ausdruck, den Marco oft verwendet. Ein «es gurkt mich an» ist das höchste der negativen Gefühlsausbrüche. Durch unsere Telefonate spüre ich, dass er nicht «jommeret» – auch wenn er allen Grund dazu hätte. Mir kommt in den Sinn, dass ich mich schon nach drei Tagen bemitleide, wenn mich der Hals schmerzt und ich ein wenig husten muss. Ich fühle mich blöd und egoistisch, dass ich mich wegen eines Schnupfens selbst bemitleide.

«Möchtest du eigentlich nie in ein Kissen schreien?», frage ich ihn. «Dazu fehlt mir die Energie», sagt er und lacht. «Manchmal gibt es Phasen, da denke ich: der verdammte Scheiss. Ich habe Gaby auch schon gesagt, dass ich das nicht noch einmal mache. Doch jetzt, wo es mir besser geht, würde ich nochmal Ja zur Stammzellentransplantation sagen.»

veröffentlicht: 15. Februar 2022 07:43
aktualisiert: 15. Februar 2022 07:43
Quelle: FM1Today

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