Verschwörungstheorien

Deshalb wettern Corona-Massnahmenkritiker jetzt gegen die Ukraine-Solidarität

06.04.2022, 17:13 Uhr
· Online seit 04.03.2022, 06:57 Uhr
Kaum ist das Thema Corona wegen Lockerungen und sinkenden Fallzahlen etwas in den Hintergrund gerückt, beschäftigt die Invasion Russlands in die Ukraine die westliche Welt. Auch Corona-Massnahmenskeptiker diskutieren in ihren Kanälen auf Social Media darüber – und üben erneut scharfe Kritik.
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«Der Bundesrat hat die Neutralität der Schweiz geopfert», heisst es etwa in einem Telegram-Kanal. Zu einem Bild, das Bundesrätin Simonetta Sommaruga mit blauer Jacke und gelbem Schal zeigt, kommentiert eine Person: «In Ukraine-Farben! Neutralität? Landes-, Volks- und Verfassungsverrat.» Auch Auns-Vorstandsmitglied Nicolas A. Rimoldi twittert: «Souveränität an EU, UNO, WHO etc. abgegeben. Bundesverfassung tot. Bankgeheimnis tot. Neutralität tot. Was ist nur aus der Schweiz geworden? Dieses Land ist am Ende.» Für Samstag ist in Bern ausserdem eine Kundgebung angekündigt, bei der «eine Trauerfeier» für die Schweizerische Neutralität stattfinden soll.

Es sind noch die harmlosen Beispiele, wie die Szene auf den Ukraine-Krieg reagiert. Und doch: Es scheint, als habe die Szene ein neues Thema gefunden. Während sich die westliche Welt mit den Kriegsopfern solidarisiert, ergreifen manche Partei für Oligarchen und Russlands Präsident Wladimir Putin.

Besonders stark beschäftigen die Sanktionen seitens der Schweiz. Nicolas A. Rimoldi erklärt, weshalb: «Die Neutralität ist ein verfassungsmässiges Sicherheitsinstrument, das sich seit rund 200 Jahren bewährt hat und uns Frieden und Stabilität gewährt hat.» Sie nun «anzugreifen, kann fatale Konsequenzen haben». Durch das Erlassen von Sanktionen sei die Schweiz zur «Kriegspartei» geworden. «Wir haben uns in einem Konflikt auf eine Seite gestellt. Bisher war die Schweiz ein sicherer Hafen für verfeindete Parteien.» Es sei «ein ganz neues Level, was wir hier machen». Rimoldi fordert: «Wir sind ein kleines Land, keine Atommacht, die Neutralität muss wieder hergestellt werden.» Er sei keinesfalls gegen die Solidarität, jedoch für jene mit der Bevölkerung, nicht mit den «leidbringenden» Politikern. «Es sind die Bevölkerungen beider Länder, die unsere Solidarität brauchen. Sanktionen schaden nicht den Eliten, sondern dem einfachen Mann.»

Westliche Schweizerinnen und Schweizer kritisieren den Westen

Der Zürcher Sozialwissenschaftler Marko Kovic hat die Entwicklung in den Kreisen der Massnahmenkritiker verfolgt. Eine Gemeinsamkeit zwischen der aktuellen Diskussion und jener während Corona ist die Kritik an den «Mainstream-Medien». Diese spielten einen zentralen Faktor bei den Verschwörungstheorien, erklärt Kovic. «Wenn man das verinnerlicht hat, setzt man sich nicht mehr damit auseinander.»

Lügenpresse bleibt Lügenpresse, heisst das quasi. «In ihrem Weltbild sind Medien im Dienst der Verschwörung. Sie werden darin von der Nato, den USA und so weiter gesteuert», erklärt Kovic. Dabei spielt es keine Rolle, dass Schweizerinnen und Schweizer – selbst in einem westlichen Land lebend – den Westen kritisieren. «Das ist absolut absurd und zeigt die grosse Kraft von Verschwörungstheorien», sagt der Szenekenner.

Was nebst dem Misstrauen gegenüber Medien jedoch ebenfalls bleibt, ist jenes in die Schweizer Institutionen. «Die Diskussion über den Krieg ist ein Symptom eines grösseren Problems. Die Betroffenen haben das Gefühl, alles sei unterwandert», sagt Kovic.

Ähnlich ist die Reaktion auf die grosse Solidarität, die die westliche Welt derzeit der Ukraine entgegenbringt. «In Verschwörungskreisen denkt man: ‹Wenn alle etwas glauben, muss es falsch sein.› Man muss gegen Mainstream sein», erklärt Kovic. Gleichzeitig bewegen sich aber auch viele Betroffene in den Kreisen, eben weil sie Teil einer Gruppe sein wollen. «Es ist also nicht nur eine Frage, was Wahrheit ist. Das ist zum einen Psychologie, zum andern geht es auch darum, wie sie die Welt sehen. Den Fehler suchen sie bei anderen.»

Doch wie entstehen solche Ansichten? Betroffene würden sich einzelne Fakten rauspicken und mit Verschwörungstheorien anreichern. «In diesem Weltbild werden ‹Fakten› schon vorher zusammengestellt», so der Sozialwissenschaftler. Das war auch schon während Corona so. In den letzten zwei Jahren hätten sich die Verschwörungsstrukturen in der Schweiz gebildet, nun haben die Anhänger ein neues Thema gefunden.

Misstrauen macht es schwierig, Menschen aus der Spirale zu holen

Der Experte betont, dass man die Situation ernst nehmen müsse. «Es ist eine gesellschaftliche Debatte. Wir müssen uns fragen, wie wir mit ihnen reden. Denn es gibt eine Polarisierung oder eben eine Spaltung der Gesellschaft.» Kovic glaubt, dass das Thema in der Szene in den Hintergrund rückt, wenn die Krise vorbei ist. Doch dann folgt eine andere Debatte. Ist es überhaupt möglich, solche Menschen aus diesen Kreisen herauszuholen? «Wir müssen es probieren, ich bin optimistisch», sagt Kovic. Er rät, Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, ernst zu nehmen und ihnen aufzuzeigen, wo sie sich vielleicht getäuscht haben.

Das Problem: «Das Misstrauen macht es sehr schwierig. Man kann sie nicht einfach mit Studien überzeugen, der Glaube wird dadurch eher verstärkt.» Stattdessen solle man zuerst einen menschlichen Zugang suchen und «nicht gleich mit Fakten kommen und Falschinformationen widerlegen». Man müsse den Mitmenschen zeigen, dass man sie ernst nimmt. Noch besser sei Präventionsarbeit, damit Angehörige und Freunde gar nicht erst in die Spirale geraten. «Der Journalismus oder auch Schulen müssten Menschen für Denkfallen sensibilisieren, also quasi dagegen impfen», so Kovic.

veröffentlicht: 4. März 2022 06:57
aktualisiert: 6. April 2022 17:13
Quelle: ArgoviaToday

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