20 Jahre nach Zuger Attentat

Ein Leben nach dem Verlust – «Kein besseres oder schlechteres, einfach ein anderes»

26.09.2021, 19:50 Uhr
· Online seit 25.09.2021, 20:07 Uhr
Am Montag jährt sich das Attentat im Zuger Regierungsgebäude zum 20. Mal. In unserer Serie stellen wir vier Menschen mit einem speziellen Bezug zum Attentat vor. Barbara Niederhauser verlor durch das Attentat ihren Ehemann. Jetzt lebt sie ein Leben, das sie sich nie hätte vorstellen können.

Quelle: PilatusToday

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Manchmal stelle sich Barbara Niederhauser schon die Frage: «Was wäre, wenn?» Ihr Leben wäre sicher ein anderes. «Kein besseres oder schlechteres, einfach ein anderes.» Wir treffen Barbara Niederhauser an einem sonnigen Tag Ende August in ihrem anderen Leben. Seit 17 Jahren lebt sie auf einem Bauernhof in Tarasp im Unterengadin. Zu ihrem neuen Leben gehören ihr Ehemann Thomas, die beiden gemeinsamen Kinder, dutzende Schafe, ein paar Kühe und mehrere Lamas. Alles Dinge, die in ihrem Lebensplan, den sie vor dem Attentat hatte, keine Rolle spielten.

«Wir wussten, dass wir nie Kinder bekommen werden», erklärt Barbara Niederhauser auf die Frage, welche Pläne sie und Rolf vor zwanzig Jahren hatten. «Wir hatten das Ziel, beide in Teilzeit arbeiten zu können und so mehr Zeit für uns zu haben.» Das Ziel war, finanziell unabhängig zu werden. «Das zu tun, worauf wir Lust haben.» Zusammen die Welt entdecken, war einer ihrer grossen gemeinsamen Träume.

Am 27. September 2001 platzten diese Träume. Rolf Nussbaumer wurde aus ihren gemeinsamen Leben gerissen. Der damalige FDP-Kantonsparlamentarier ist mit 36 Jahren das jüngste Opfer des Zuger Attentats. «Er war ein sehr engagierter Mensch, ob in der Feuerwehr, der Politik oder im Sport», beschreibt die Baarerin ihren verstorbenen Ehemann. Ein enger Freund schreibt kurz nach dem Attentat folgende Worte: «Jeder erste Kontakt mit Rolf war verbunden mit einem verschmitzten Lachen, einem schelmischen Augenzwinkern und einem freundschaftlichen Händedruck.» Barbara und Rolf waren ein weltoffenes und aktives Paar, das den Kontakt zu seinen Mitmenschen suchte, ja schon fast brauchte. Sieben Jahre waren die beiden verheiratet.

Die Liebe führte sie in ein neues Leben

Das jetzige Leben von Barbara Niederhauser wirkt wie das komplette Gegenteil davon. In Tarasp leben pro Quadratkilometer sieben Personen. Es scheint kein passender Ort für die gelernte Damenschneiderin zu sein. Der Umzug sei jedoch keine Flucht gewesen. «Ich hatte nicht das Bedürfnis, Baar zu verlassen. Im Kreis meiner Familie und Freunde hatte ich mich wohlgefühlt.» Doch verliebt man sich in einen Bauern, habe man nur zwei Möglichkeiten. «Entweder du lässt es sein oder man zieht auf den Hof.»

Barbara Niederhauser hat sich für die Liebe und ein neues Leben entschieden. Kennengelernt hat sie Thomas in ihren Ferien in Finnland. «Ich glaube nicht, dass ich je sagte: Ich möchte Bäuerin werden.» Auf dem Hof ist sie für das Administrative und den Hofladen zuständig. Ihre Spezialität sind Bündner Nusstorten. «Alle haben hier ein leicht anderes Rezept.» Kulinarisch hat sie ihre alte Heimat nicht vergessen. Besucht man die Familie Niederhauser auf ihrem Hof, sollten auch ein paar «Speckli», ein Mandelgebäck aus dem Kanton Zug, den Weg durch den Vereina finden. Das Gespräch wird durch ihren Sohn Nic unterbrochen. «Mami, darf ich ein «Speckli» haben?»

Vor zwanzig Jahren absolvierte Barbara Niederhauser ihre Zweitausbildung als Damenschneiderin. Am Morgen des 27. Septembers war sie in Schwyz auf der Arbeit. «Ich musste vor ihm aus dem Bett und habe ihm noch «Tschüss» gesagt.» Um die Mittagszeit bekam sie einen Anruf einer Freundin. Diese wollte wissen, ob sie etwas wisse. «Ich war nicht wirklich besorgt. Ich dachte mir, wenn etwas wäre, hätte ich auch etwas gehört.» Irgendwann klingelte das Telefon in regelmässigen Abständen. Ihr Vater und ihr Bruder holten sie im Verlauf des Nachmittags von der Arbeit ab. Rolf konnte sie in dieser Zeit nicht erreichen. «Irgendwann hast du es gespürt, dass er tot ist. Niemand konnte etwas sagen.» Sie blieb bei ihren Eltern zu Hause und ging nicht nach Zug in den Sammelraum für die Angehörigen. «Um etwa fünf Uhr kam die offizielle Meldung, dass Rolf nicht mehr lebt.»

Das eigene Leben richtet den Blick nach vorne

Ihre Gefühle spielten nach der Tat in zwei Welten. «Einerseits ist da diese schreckliche Tat und das Unverständnis darüber, andererseits habe ich meinen Partner verloren und muss mein Leben plötzlich wieder alleine bestreiten.» Es habe schon Momente gegeben, in denen sie dachte, dass es nicht mehr weitergehe. «In diesen Momenten war es sicherlich ein Vorteil, dass ich wieder arbeiten ging. Das war mein Leben, meine Ausbildung und meine Arbeit gewesen.» Schwieriger war die Zeit an freien Abenden oder an Wochenenden. «Meine grosse Stütze waren meine Familie und meine Freunde. Ich konnte sie zu jeder Zeit anrufen.» Auf einer Biketour konnte sie ihre Gedanken wieder sortieren.

Am Rande des Schweizerischen Nationalparks habe das Attentat und der Verlust von Rolf im Alltag kaum noch einen Einfluss. Die Baarerin geht sehr klar und vorwärtsdenkend mit ihrem Schicksal um. Die Frage nach dem «Wieso» oder dem «Warum» stelle sie sich im Leben selten. «Man kann sich ja nicht einfach ins Bett legen und sagen: Jetzt ist das Leben fertig.» Ob man will oder nicht, das Leben müsse weitergehen. Vergleichbare Ereignisse mit jenem in Zug lassen in ihr die Gefühle und Emotionen von damals wieder hochkommen. «An speziellen Daten ist Rolf besonders in meinen Gedanken.» Ihre Kinder kennen die Geschichte von Rolf. «Wir waren häufig zusammen am Grab. Irgendwann wollten sie wissen, wen sie eigentlich besuchen.» Ihre beiden Kinder sollen aus dem Attentat vor allem Eines für ihr Leben mitnehmen. «Unsere nächste Generation soll mitnehmen, dass das keine Lösung ist.»

Sendungshinweis

Am Montag, 27. September, zeigt Tele 1 ab 18.30 Uhr stündlich wiederholt eine Spezialsendung mit vier Personen, die einen besonderen Bezug zum Zuger Attentat haben.

veröffentlicht: 25. September 2021 20:07
aktualisiert: 26. September 2021 19:50
Quelle: PilatusToday

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