Kultur

Ein unermesslich wirkender Liebender: Regie-Altmeister Werner Düggelin ist tot

07.08.2020, 10:59 Uhr
· Online seit 06.08.2020, 19:09 Uhr
Aufhören wollte er schon länger. Aber das Feuer für die Bühne hat ihn immer wieder gepackt. Nun ist Regie-Legende Werner Düggelin im Alter von 90 Jahren in Basel gestorben.
Julia Stephan
Anzeige

«Ich will nicht mehr. Das Inszenieren strengt mich zu sehr an», sagte Werner Düggelin nach seiner Molière-Inszenierung am Schauspielhaus Zürich. Da war er 84 Jahre alt, und die meisten seiner männlichen Altergenossen längst als Rentner unsichtbar geworden. Es war ein Rückzug mit Rückzieher. Denn wie bei vielen Künstlern, die ein Leben lang für eine Sache brennen, musste es auch für «Dügg», wie ihn alle liebevoll nannten, irgendwie weitergehen. Und es ging weiter: Mit der Becket-Inszenierung «Glückliche Tage» 2015 am Schauspielhaus Zürich, und ebendort vor zwei Jahren, als er, seinem minimalistischen, strengen Stil streng die Treue haltend, Büchners «Lenz» inszenierte.

Ein halbes Jahr nach seinem 90. Geburtstag, um den er ja kein Aufheben machen wollte, ist sein Rücktritt von der Theaterbühne besiegelt. Werner Düggelin, einer der grössten Schweizer Regieexporte der letzten Jahrzehnte, ist mit 90 Jahren in Basel verstorben. Ohne ihn hätten die Chroniken der Schweizer Theaterhäuser in Zürich und Basel weniger Glanzpunkte, ohne sein Engagement für die französische Avantgarde ständen Namen wie Samuel Becket nicht selbstverständlich auf unseren Spielplänen. Neben Becket und Ionesco, mit denen er befreundet war, machte er Stücke von Georges Schehadé, Albert Camus, Jean Genet und Paul Claudel hierzulande bekannt.

Nostalgie war seine Sache nicht, und wahrscheinlich würde er auch einen Nachruf nur höflich zur Kenntnis nehmen. Nicht mal Theaterkritiken über seine Arbeit hat er gesammelt. Überhaupt hielt Werner Düggelin wenig von Eitelkeit. Legendär ist die Anek­dote über den verstorbenen deutschen Schauspieler Will Quadflieg, an dem sich Düggelin, der als Student als Beleuchter im Schauspielhaus Zürich jobbte, gerächt haben soll, indem er ihn bei der Premiere nicht anleuchtete. «Die Eitelkeit von dem hat mich krank gemacht», erzählte er Jahrzehnte später.

Düggelin und das Theater: Liebe auf den ersten Blick

Es ist klar, dass jemand, der sich mit solcher Inbrunst über das, was auf der Bühne abgeht, aufregen konnte, nicht lange im Hintergrund bleiben würde. Düggelin wusste bei seinem ersten Theaterbesuch am Schauspielhaus Zürich um die 20 plötzlich und ganz gewiss: Ich werde Regisseur. Es war ein «Coup de Foudre», wie er seiner Biografin Beatrice von Matt Jahrzehnte später verriet. Und er liess sich nicht mehr davon abbringen, auch wenn er in seinen späten Jahren den Regiejob auch mal für ein paar Jahre an die Theatergarderobe hängte und zwischen 1988 und 1991 die Leitung des Schweizerischen Kulturzentrums in Paris übernahm, um sich eine Auszeit vom Kräfte zehrenden Theater zu gönnen, das bei ihm merkwürdigerweise immer wie ein Kinderspiel wirkte.

Gelernt hat er sein Handwerk in den 1950er-Jahren an der Schule des Brecht-Schülers Roger Blin in Paris. Der brachte das Samuel-Beckett-Stück «Warten auf Godot» zur Uraufführung, machte Dügg mit Becket und Eugène Ionesco persönlich bekannt.

Düggelin war von da an für ein ganzes Theaterleben vom Beckett-Fieber infiziert, dessen Theater er partout nicht als «absurd» bezeichnet wissen wollte. «Es gibt bei Beckett überhaupt nichts Absurdes», verriet er 2006 der NZZ. «Sein Theater ist von einer absoluten Folgerichtigkeit und Konsequenz. Die Texte sind ganz klar und logisch. Aber sie haben Löcher. Schwarze Löcher. Und die muss man ergänzen können.»

Düggelin sorgte mit dafür, dass Blins Inszenierung in den 1950ern nach Zürich kam. Er assistierte seinem Mentor, dolmetschte für ihn. Das Zürcher Publikum konnte zwar nur wenig mit dem Avantgarde-Stück anfangen. Trotzdem kam Düggelins Karriere in Fahrt. Es folgten Engagements an deutschen Theaterhäusern. Im Darmstädter Landestheater feierte er 1957 mit Goethes «Urfaust» seinen Durchbruch. Dabei hätte alles anders kommen können – oder musste es einfach so kommen?

Aufgewachsen ist der 1929 geborene Sohn eines Schreinermeisters im Kanton Schwyz. Die Fasnachtstradition der Innerschweiz mit ihren Figuren und Mythen war der erste Berührungspunkt mit der Bühnenhaftigkeit, die über die blosse Existenz der Welt hinauswies. Bei der Berufswahl hielt er es mit seinem Vater, der seinem orientierungslosen Sohn einmal geraten haben soll: «Suche nie einen Beruf; warte, bis einer zu dir kommt.» Er hat sich dran gehalten, und dieses Prinzip auch zum Teil seiner Arbeit gemacht.

Zufall sei blosse Eingebung, hat Düggelin einmal gesagt. «Zufall meint, dass mir etwas zu-fällt – zum Beispiel eine Begegnung.» Das betraf nicht nur seine Jobwahl, sondern auch seine künstlerische Arbeit als Ganzes. Auch deshalb hatte man stets das Gefühl, dass Dügg ein grosser, ja sogar fast unermesslich wirkender Liebender war, der auch grossartig streiten konnte, auch mit literarischen Dickköpfen wie Max Frisch oder einem Friedrich Dürrenmatt, der das Theater Basel während Düggelins Basler Schauspieldirektion (1968 – 1975) im Jahr 1969 wutentbrannt verliess und den Dügg als unfähig beschimpfte.

Fruchtbare Basler Jahre

Düggelin kam zu einer Zeit nach Basel, als man mit einer Theaterinszenierung noch zum Stadtgespräch werden konnte. Er wollte die Welt verändern, und er brachte Bewegung in die Stadt! Er holte die Jugend als eigene Publikumssparte ab, veranstaltete Rockkonzerte. Der Theatermann veranstaltete mit dem FC Basel, bei dem er manchmal als Gast auf der Trainerbank sass, sogar eine Lotterie, um Geld in die klamme Theaterkasse zu spülen. «Man muss sich zum Stadtgespräch machen, wenn man Theater für eine Stadt machen will», hat der bekennende Fussballfan (sein Herz schlug zuletzt für Borussia Dortmund) einmal gesagt. Der Plan ging auf: Gleich mehrere Inszenierungen wurden ans Berliner Theatertreffen geladen. Das Abonnentenpublikum hingegen fühlte sich seiner Wohlfühloase beraubt. Noch heute zehrt Basel vom Glanz jener Jahre.

Düggelins Theater war nie kopflastig, dafür «prall», was nicht bunt oder knallig meint, sondern ein alle Theatermittel kennendes und deshalb umso bewusster einsetzendes Kalkül. Schauspieler waren Düggs Leidenschaft; mit ihnen lebte und litt er. Und er war ein Visionär und Träumer, dem man oft liebevoll nachsagte, er sei ein Spinner. Einer, der seinem minimalistischen Stil bis in die hohen Jahre treu blieb, ihn sogar noch steigerte bis zur Perfektion. Jene, die ein ähnlich musikalisches Sprachgefühl besassen und in der Reduktion den grösstmöglichen Ausdruck sahen, hat er gefördert. Etwa die Theaterautorin Laura de Weck mit ihren lakonischen Dialogstücken. Einige ihrer Stücke brachte Dügg persönlich zur Uraufführung.

Sich bis ins hohe Alter treu geblieben

Das an den Theaterhäusern um sich greifende Quotendenken hat ihn immer geärgert. Heute wird Samuel Beckett nur noch selten gespielt. Theater ist schrill geworden und multimedial. Der Respekt vor der Sprache und ihren Finessen ist ein bisschen aus der Mode geraten. Düggelin aber ist Düggelin geblieben, und so wirkte manches von dem, was er in den letzten Jahren tat, etwas aus der Zeit gefallen.

Und trotzdem, da ist man sicher, wird seine Kunst überdauern, gerade wegen seiner Geradlinigkeit wird ihn die Nachfolgegeneration wieder für sich entdecken. Denn er repräsentierte viel von dem, was heute fehlt: eine kluge Wahl der Mittel, eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Text und eine Einladung zum Träumen.

veröffentlicht: 6. August 2020 19:09
aktualisiert: 7. August 2020 10:59
Quelle: CH Media

Anzeige
Anzeige