Triage

Hohe Auslastung der Intensivstationen: Wer darf leben?

· Online seit 06.12.2021, 18:34 Uhr
Die Zahl der Neuansteckungen steigt, die Anzahl freier Betten auf den Intensivstationen sinkt. Geht es so weiter, können Spitäler bald nicht mehr alle Patienten aufnehmen, die eine Intensivpflege bräuchten. Dann kommt die Triage. Wie aber entscheiden Ärzte über das letzte freie Bett auf der Intensivstation?
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Mit jeder neuen Corona-Welle wird die Triage wieder zum Thema. Der Begriff stammt vom französischen Verb «trier», was so viel wie «auslesen» oder «sortieren» bedeutet. Im medizinischen Kontext meint die Triage das Vorgehen zur Priorisierung medizinischer Massnahmen, wenn vorhandene Ressourcen nicht mehr ausreichen, um alle Patienten zu versorgen. Wie aber «sortiert» man Menschen, wenn es um Leben und Tod geht?

Eine heikle Frage – aus medizinischer, emotionaler, juristischer und ethischer Sicht. Gerade weil die Herausforderung derart vielschichtig ist, sind faire Priorisierungskriterien und transparente Entscheidungsprozesse unabdingbar.

Verschieben und verlegen

Bei Ressourcenknappheit auf Intensivstationen, was laut der neusten Grafik des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) in der Schweiz bereits in einigen Spitälern der Fall ist, kommt es als Erstes zu einer Verschiebung nicht dringlicher Behandlungen. Dabei werden jene Behandlungen aufgeschoben, bei denen durch die zeitliche Verzögerung keine Verschlechterung der Prognose, keine erheblichen Gesundheitsschädigungen oder kein vorzeitiger Tod droht.

Hat man trotz Verschiebung nicht dringlicher Behandlungen zu wenig Platz auf der Intensivstation, so ist eine Verlegung von Patienten in ein anderes Spital mit mehr Kapazität möglich. Der koordinierte Sanitätsdienst des Bundes (KSD) koordiniert die intensivmedizinischen Ressourcen der gesamten Schweiz und die Verlegung von Patienten.

Wenn beide Massnahmen nicht genügend Ressourcen frei machen, kommt es zur Triage. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat sich gemeinsam mit der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) dem Thema angenommen und «Triage-Richtlinien» erstellt. Sie sind nicht gesetzlich verankert, dienen den Ärztinnen und Ärzten aber als wichtige Hilfestellung im Falle einer Triage und sollen schweizweit für einheitliche Prozesse sorgen.

Die Triage, Step by Step

Als erstes und oberstes Entscheidungskriterium gilt die kurzfristige Überlebensprognose. Nach dieser hat derjenige Patient, dessen Prognose im Hinblick auf das Verlassen des Spitals mit Intensivbehandlung gut, ohne diese aber ungünstig ist, die höchste Priorität.

Zusätzlich muss der mit der intensivmedizinischen Behandlung verbundene Aufwand beachtet werden. Bei gleicher Überlebenschance hat der Patient Vorrang, bei dem nach kürzerer Zeit ein gewünschter Erfolg erwartet wird. Denn: Je schneller jemandem geholfen wird, desto eher ist wieder ein Bett frei. Langfristig können so mehr Menschenleben gerettet werden.

Und dann wirds noch komplexer als ohnehin schon. Im dritten Schritt werden spezifische Risikofaktoren für eine erhöhte Sterblichkeit untersucht, ein konkretes Beispiel ist die altersbedingte Gebrechlichkeit. Solche Faktoren hängen stark vom Patienten ab und macht jede Triage letztlich zu einer Einzelfallentscheidung, für die manchmal auch noch weitere medizinische Prognosekriterien formuliert werden müssen nebst denen, die von der SAMW und der SGI formuliert wurden.

Was ist gerecht?

Die Triage-Richtlinien basieren auf den «vier weitgehenden anerkannten medizin-ethischen Prinzipien – Wohltun, Nichtschaden, Respekt vor Autonomie und Gerechtigkeit», schreibt die Autorschaft der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin. Was Gerechtigkeit im Falle einer Triage bedeutet, wird zurzeit kontrovers diskutiert. Stimmen aus der Medizin und Wissenschaft werden laut. Sie fordern, dass der Impfstatus zum Kriterium wird. So auch der Epidemiologe Marcel Salathé: «Impfverweigerer mögen ignorante Egoisten sein – doch auf der IPS müssen sie gleiche Rechte haben wie das kranke Mädchen mit dem Herzfehler», schrieb die NZZ in einem Kommentar. Salathé twitterte kurz und bündig: «Nein».

Der Infektiologe Andreas Widmer nennt das Kind gegenüber «20 Minuten» beim Namen: «Es kann nicht sein, dass Ungeimpfte den Geimpften den Platz auf der IPS wegnehmen und so deren Überlebenschance mindern.»

Die Angst kommt nicht von ungefähr: In der Zentralschweiz ist bereits jeder 3. Fall auf der Intensivstation ein Covid-19-Erkrankter. Davon sind beispielsweise 12 von 13 Patienten im Luzerner Kantonsspital nicht geimpft.

Die SAMW ist allerdings anderer Meinung: Der Impfstatus soll keine Rolle spielen bei der Triage. Sybille Ackermann, Leiterin Ressort Ethik der SAMW erklärt: «Es ist essenziell, dass rein nach medizinischen Kriterien entschieden wird, wer bei Ressourcenknappheit einen Platz auf der Intensivstation erhält und wer nicht. Die Triage-Richtlinien und die darin beschriebenen Kriterien gelten für alle Patientinnen und Patienten, die eine Intensivbehandlung benötigen. Es sollen weder Covid- noch andere Patienten per se bevorzugt oder benachteiligt werden.» Das Ziel der Triage sei es, die zu Verfügung stehenden Ressourcen so einzusetzen, dass eine ausreichende Versorgung aller kritisch kranken Personen gewährleistet sei, unabhängig davon, an welchen Krankheiten oder Unfallfolgen sie leiden würden und welchen Impfstatus sie hätten.

veröffentlicht: 6. Dezember 2021 18:34
aktualisiert: 6. Dezember 2021 18:34
Quelle: PilatusToday

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