Bundesratswahl

Kritik am Vorgehen der Grünen

11.12.2019, 17:29 Uhr
· Online seit 11.12.2019, 15:50 Uhr
Die meisten Kommentatoren würdigen den Verzicht auf die Abwahl von Bundesrat Ignazio Cassis. Sie sind sich aber einig, dass die heutige Zauberformel überholt ist. Das Scheitern hätten sich die Grünen aber auch selber zuzuschreiben.
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«Corriere del Ticino»:

Trotz Handicap der Kampfkandidatur sei das Resultat des Tessiner Vertreters im Bundesrat «schmeichelhaft», schreibt das Blatt in seinem Onlinekommentar. Es sieht im Ergebnis von Ignazio Cassis auch keinen Hinweis auf eine Abstrafung des Aussenministers. Das Parlament habe die Konkordanz bewahrt und damit nicht zuletzt auch die in der Verfassung postulierte angemessene Vertretung der Landesgegenden und Sprachregionen. Dass die Grünen gescheitert seien, hätten sie sich vor allem selber zuzuschreiben. Am Anfang sei die Kandidatur nur halbherzig erfolgt, man sei zu spät auf die Grünliberalen zugegangen, Rytz sei keine Brückenbauerin und einem zweiten SVP-Sitz im Bundesrat hätten sich die Grünen seinerzeit mit den gleichen Argumenten verweigert, wie dies nun die SVP mit den Grünen tue.

«Neue Zürcher Zeitung»:

Wenn die alte Zauberformel dem Realitätscheck nicht mehr standhalte, passiere vorerst einmal nichts, so der Schluss der Zeitung online: «Auch der Druck der Strasse, der von protestierenden Umweltbesorgten ausgeht, vermag daran nichts zu ändern. Veränderungen brauchen in der Schweiz Zeit.» Die Strategie der Grünen sei «von Beginn an wenig durchdacht» gewesen. Vernünftigerweise werde an der Regierung beteiligt, wer im Konkordanzsystem seine Referendumsfähigkeit bewiesen habe, «wer also Oppositionsmacht hat und Vorlagen von Bundesrat und Parlament regelmässig via Volksentscheid blockieren kann. So weit sind die Grünen noch nicht». Andererseits seien nur noch 69 Prozent der Wählerstimmen im Bundesrat abgebildet: «Solchen Veränderungsschüben muss das System gerecht werden, will es Bestand haben. Es muss agiler werden. Sonst droht es von innen zerfressen zu werden.» Zum raschen Handeln habe die Bundesversammlung jedoch «in diesem Zustand des konkordanten Deliriums» nicht ansetzen wollen. Aber: «Die Entscheide darüber, wie inskünftig bei Bundesratswahlen zu verfahren sei, wurden nur vertagt.»

«Berner Zeitung»:

«Der strahlenden Siegerin des Wahlherbstes wurden vom neuen Parlament die Grenzen aufgezeigt», kommentiert das Blatt online den «ungestümen Sololauf» der grünen Kandidatin. Dass Rytz durchgefallen sei, liege an ihr selbst: «Sie ist ungestüm, mit viel Selbstbewusstsein, ohne übermässige Demut - das stösst im Bundeshaus auf wenig Gegenliebe.» Zudem vertrete sie gerade in den Knackpunkten der Europa- und Sozialpolitik keine mehrheitsfähigen Positionen und politisiere dogmatisch. «Die Partei hätte ein Duo und damit eine moderate Alternative zu Rytz anbieten müssen.» Zudem rechtfertigt die optimale Sitzverteilung im Bundesrat keine Abwahl eines Mitglieds. Aber: «Die Zusammensetzung der Regierung sollte mittelfristig dem Wählerwillen angepasst werden. Ein Sitz der Grünen ist aufgrund des Wähleranteils gerechtfertigt. Dafür brauchen sie nach dem Herbsthoch allerdings noch weitere Erfolge.»

«Watson»:

Dass es Rytz nicht gereicht habe, habe am Ende niemanden überrascht, kommentiert das Onlineportal. «Die Herausforderung war von Anfang an enorm, und mit ihrem wenig überzeugenden Vorgehen haben die Grünen sich selbst geschadet.» Auch wenn die Chance gering geblieben wäre: «Mit etwas mehr strategischem Geschick hätten sie es vielleicht geschafft. Etwa, indem sie frühzeitig auf die CVP und die Grünliberalen zugegangen wären und eine mehrheitsfähigere Persönlichkeit nominiert hätten, als die stramm linke Regula Rytz.» Auch für das Onlineportal steht ausser Frage, dass es eine neue Formel für die Landesregierung braucht, «die die Zusammensetzung des Bundesrates flexibler, aber nicht instabiler macht». Vom bestätigten Gremium wird verlangt, generell mehr Führungsstärke zu zeigen: «In letzter Zeit hat man sie schmerzlich vermisst.» Nun seien vor allem in der Europafrage harte Entscheide gefordert. «In der letzten Legislatur musste (zu) oft das Parlament - vor allem der Ständerat - die Richtung vorgeben.»

«Aargauer Zeitung»:

«Die Schweiz hat heute Stabilität bewiesen. Grünen-Wahlerfolg bei der Parlamentswahl hin oder her - die Zauberformel, die eigentlich als überholt gilt, hat noch einmal überlebt», fasst die Zeitung das Geschehen online zusammen. Nun richte sich der Blick auf Freitag, wenn der Bundesrat die Departemente verteilt. «Aus CVP-Kreisen war heute zu hören, ein Departementstausch von Alain Berset und Ignazio Cassis sei nicht ausgeschlossen.» Doch mit Überraschungen sei auch am Freitag nicht zu rechnen. «Es ist nicht im Interesse der SP, das mächtige Innendepartement preiszugeben.»

«Blick»:

«Rytz klar gescheitert, Cassis klar bestätigt – aufregend ist das nicht, aber gut für die Schweiz: Der Bundesrat kann jetzt in Ruhe seine Arbeit machen», kommentiert blick.ch. Auch andere Parteien hätten jeweils lange warten müssen, bis sich ihre Resultate bei Parlamentswahlen in der Landesregierung gespiegelt haben. «Zum anderen gleisten die Grünen ihre Bundesratskampagne seltsam unentschieden auf, manche sagen sogar: dilettantisch. Sie versäumten es, den Schwung des Wahltags in entschlossenes, rasches, zielbewusstes Handeln umzusetzen.» Trotzdem werde der 11. Dezember 2019 nicht ohne Folgen bleiben: «Denn die Schweiz verdankt ihre Stabilität nicht zuletzt der Tatsache, dass alle relevanten Kräfte in der Regierung vertreten sind. Können die Grünen bei den Wahlen 2023 beweisen, dass ihr Erfolg von Dauer ist, sollten sie in den Bundesrat einziehen.»

«Tagesanzeiger»:

Dass den Grünen ein Bundesratssitz vorerst verwehrt bleibt, ist für das Blatt «kein Skandal». Die Partei habe den erhofften Achtungserfolg verpasst. Eine restlos überzeugende Formel für die korrekte Abbildung des Wählerwillens im Bundesrat gebe es nicht. «Und Grüne und Grünliberale sehen sich ohnehin nicht als Einheit - das hat das Drama der Rytz-Kandidatur nachhaltig vergegenwärtigt.» Beelendend seien aber die Argumente, vor allem jenes der Stabilität, mit denen man den Anspruch der Grünen abgeschmettert habe. «Stabilität brauchen der Rechtsstaat und das institutionelle Gerüst unseres Landes. Doch sollte man nicht die Institution mit ihren Repräsentanten verwechseln. Das faktische Abwahlverbot, das sich die Fraktionen auferlegt haben, gehört überdacht.» Es sei auch eine Form der Stabilität, «das System clever anzupassen, wenn sich die Umstände ändern». Abgeschafft gehöre auch die Unsitte, dass sich Bundesräte während einer laufenden Session in den Ruhestand verabschiedeten. Das schränke den Spielraum bei Gesamterneuerungswahlen empfindlich ein.

veröffentlicht: 11. Dezember 2019 15:50
aktualisiert: 11. Dezember 2019 17:29
Quelle: sda

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