Kultur

Raubmord im Aargau 1957 hielt die Schweiz in Atem – nun gibt es einen Roman dazu

04.04.2020, 15:11 Uhr
· Online seit 03.04.2020, 10:20 Uhr
Der verschuldete Aargauer Gipser Max Märki begeht 1957 einen Raubmord. Peter Hosslis Roman «Revolverchuchi» gibt neue Einblicke – mit den Mitteln eines literarischen Journalismus
Dario Pollice
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Max Märki plante seit längerem, einen «Chrampf» zu machen – ein krummes Ding zu drehen. Der 26-jährige Gipser aus Mönthal brauchte dringend Geld für den Unterhalt seiner drei Kinder und die Schulden, die er seit seinem Konkurs mit sich trug.

Märki brauchte aber auch Geld, weil er mit seiner schwangeren Geliebten, Ragnhild Flater, nach Amerika auswandern wollte. Dort würde er mit der norwegischen Hilfsköchin einen Neuanfang wagen.

Also heckte er mit Ragnhild einen Plan aus: Im «Aargauer Tagblatt» gab Max ein Lockinserat auf und bot ein Auto zum Verkauf an, das er nicht besass. Beim Treffen mit dem Käufer würden sie diesen bewusstlos schlagen und ausrauben.

Als der Gipser und die Norwegerin am 19. Oktober 1957 in Baden mit dem potenziellen Käufer Peter Stadelmann in ihr Auto einstiegen, lief jedoch nichts nach Plan.

Am Ende des Abends war der Innenraum des Citroën komplett blutverschmiert. Und in den darauffolgenden Wochen rätselte die ganze Schweiz: was ist Peter Stadelmann, Vertreter aus Rohr, zugestossen?

Ein über zweijähriges Projekt

Vom Mordfall Stadelmann erfuhr der Journalist und Autor Peter Hossli, der im Kanton Aargau aufgewachsen ist, das erste Mal vor über zwei Jahren.

Der Badener Ehrenbürger Sepp Schmid erzählte ihm, wie vor sechzig Jahren zwei junge Liebende einen Mann ermordeten, und ihn von der Brücke zwischen Birmenstorf und Mülligen in die Reuss warfen.

«Die Geschichte hatte mich nicht mehr losgelassen», sagt Hossli im Interview mit dieser Zeitung. Er habe schnell gewusst, dass er mehr darüber erfahren möchte und ein Buch verfassen wolle.

Die Frucht dieser über zweijährigen Arbeit ist nun vor kurzem unter dem Titel «Revolverchuchi» im Zytglogge Verlag erschienen.

«Komaglotzen» mit Gerichtsakten

Peter Hossli war klar, dass er das Buch nur schreiben kann, wenn er Zugang zu den Gerichtsakten erhielt. Das Problem: Die Akten waren bis achtzig Jahre nach dem letzten Eintrag gesperrt. Der war vom November 1972.

Der Autor setzte sich in Verbindung mit dem Staatsarchiv Aarau. Wenn er belegen könne, dass Max Märki seit mehr als zehn Jahren tot sei, würde er Zugang zu den Akten erhalten. «Das war gar nicht so einfach», so Hossli.

Über seinen ehemaligen Deutschlehrer fand er zu einem pensionierten Aargauer Kantonspolizisten, der wiederum den Kontakt zu Kurt Märki herstellte – Max Märkis Bruder. Dieser bestätigte dem Autor, dass Max seit 1996 tot sei. Schliesslich erhielt Hossli Zugang zu den Gerichtsakten. Allerdings bahnte sich bereits die nächste Hürde an.

«Ich durfte aus dem Staatsarchiv nichts rausnehmen oder kopieren», erzählt der Autor. Einen ganzen Sommer lang habe er sechs grosse Gerichtsordner eins zu eins von Hand abgeschrieben, insgesamt über tausend Seiten.

«Das war wie ‹Binge Watching› (engl.: Komaglotzen, Anm. d. Red.) einer Fernsehserie», erinnert sich Hossli. «Vor mir lagen die Polizeiberichte und langen Befragungen der Verdächtigen und Angehörigen. Oder Liebesbriefe, die sich Max und Ragnhild in der Strafanstalt Lenzburg zu schmuggelten.»

Zudem fand der Schriftsteller eine weitere Trouvaille in den Akten: eine gepresste Blume, die Ragnhild ins Gefängnis schmuggelte und an Max weitergab.

Ein erzählerischer Journalismus

Hossli entschloss sich dazu, die Geschichte wie einen Roman aufzuarbeiten. Alle Details und narrativen Stränge sollten aber auf den Gerichtsakten basieren. «Alles was im Buch steht, ist so passiert», betont der Autor.

Die Dialoge und Gedanken der Protagonisten habe er beispielsweise den Gerichtsprotokollen entnommen. Oder wenn Hossli schreibt, dass Peter Stadelmann am Tag seiner Ermordung einen Tomatensalat ass, dann hat er das aus dem Obduktionsbericht des Gerichtsmediziners.

«Ich bin journalistisch vorgegangen und habe versucht, eine Art ‹New Journalism›-Projekt zu machen. Ich wollte den Fall zugänglich machen, und möglichst nicht wertend sein.»

Der «New Journalism» geht auf die 1960er und 1970er Jahre in den USA zurück. Dieser «neue Journalismus» vermischte die Grenzen zwischen Literatur und Journalismus. Das Resultat war ein erzählerischer Journalismus, der dennoch auf Fakten beruhte.

«Es regnete in Strömen im Eichtal…»

Während der Lektüre von «Revolverchuchi» fühlt man sich an ein bestimmtes Werk des «New Journalism» erinnert: Truman Capotes «Kaltblütig». Auch wenn Hossli den Vergleich mit dem Tatsachenroman von 1966 abwimmelt («Ich würde mich nie in dieselbe Kategorie wie Capote stellen») bestehen durchaus Parallelen zwischen den Werken.

Beide rekonstruieren tatsächliche Mordfälle, die medial hohe Wellen schlugen, und vermischen literarische Darstellungsformen mit journalistischen. Bei Hossli ragt diese Vermischung beispielsweise in der Beschreibung der Mordszene hervor:

Der Stil ist geradlinig und feststellend, aber im gleichen Zug zeichnet der Schriftsteller mit den inneren Gedanken von Märki und dem gebrochenen Scheinwerferlicht eine im höchsten Masse dramatische Szenerie.

Ein differenziertes Bild vom Mordfall

«Revolverchuchi» ist vollgespickt mit Szenen, die sich beim Lesen ins Gedächtnis einbrennen. Das liegt auch daran, dass Hossli gekonnt das ländliche Arbeitermilieu der 1950er Jahre auferstehen lässt.

Während in den Geschichtsbüchern oft vom Wirtschaftsaufschwung der Fünfziger Jahre die Rede ist, richtet der Autor seinen Blick auf die Schattenseiten dieser Zeit; auf Familien, die von Gewalt und Geldnot geprägt waren, und Frauen, die illegal und ohne jegliche medizinische Hilfe Abtreibungen vornahmen.

Nebst der schrittweisen Rekonstruktion des Verbrechens beschreibt er mit viel Liebe fürs Detail dieses Milieu, aus dem auch Max stammte. Ohne die Tat von Märki und Flater zu beschönigen, erhält man dank «Revolverchuchi» ein differenziertes und dennoch packendes Bild vom Mordfall. «Letztlich ist es eine urmenschliche Geschichte, die sich zugetragen hat», stellt Peter Hossli fest.

veröffentlicht: 3. April 2020 10:20
aktualisiert: 4. April 2020 15:11
Quelle: CH Media

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