Klimakleber-Proteste

«Sie wissen genau, dass sie mit solchen Aktionen Leute gegen sich aufbringen»

26.04.2023, 10:29 Uhr
· Online seit 26.04.2023, 10:19 Uhr
Klimakleber sind in aller Munde – nicht nur im positiven Sinn. Die Aktivistinnen und Aktivisten sorgen mit ihren Aktionen immer wieder für rote Köpfe. Warum provozieren sie bewusst? Und wo sind ihre Grenzen? Ein Experte ordnet ein.
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Schweizweit gibt es wohl niemanden mehr, der noch von keiner Klebe-Protestaktion fürs Klima gehört hat. Auf diese Weise wurde am Montagmorgen die deutsche Hauptstadt Berlin lahmgelegt. Bis zu 800 Personen sollen an Aktionen an rund 30 Standorten in der ganzen Stadt beteiligt gewesen sein. Die Berliner Polizei verhaftete 40 Personen. Auch in Bern blockierte im Oktober 2022 die Gruppe Renovate Switzerland die Lorrainebrücke. Eine der Aktivistinnen wurde am Freitag zu einer Geldstrafe verurteilt.

Aktionen von Protestgruppen wie Renovate Switzerland nehmen zu. In der Schweiz sorgte die Gruppe zuletzt am Osterwochenende für Furore: Sieben Sympathisantinnen und Sympathisanten im Alter von 19 bis 64 Jahren klebten sich am Karfreitag beim Nordportal des Gotthardtunnels in Göschenen auf der Autobahn A2 fest. Dies sorgte für viele rote Köpfe, für die Sperrung beider Gotthardröhren – aber auch für weltweite Aufmerksamkeit.

Quelle: CH Media Video Unit / Katja Jeggli

Mehr als 130 Presseartikel seien über die Aktion am Gotthard verfasst worden, schreibt Renovate Switzerland. Dutzende hätten sich für die nächsten Informationsabende der Gruppe angemeldet. Das Ziel der Gruppe ist klar: «Die Bevölkerung zu mobilisieren, um die grösste zivile Widerstandsbewegung fürs Klima aufzubauen, die die Schweiz je gesehen hat. Und zwar so lange, bis der Klimanotstand als solcher behandelt wird.»

«Sie wollen anderen Menschen nicht schaden»

Doch wird der Klimanotstand von der Bevölkerung durch solche kontroversen Aktionen schneller anerkannt? Ist es nicht kontraproduktiv, die Gemüter vieler Menschen aufzuhetzen?

Jevgeniy Bluwstein vom Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern setzte sich in einem Projekt mit der Verrechtlichung der Klimapolitik durch Klimaaktivismus und Klimaprozesse in der Schweiz auseinander. Er betont, dass es den Aktivistinnen und Aktivisten nicht darum geht, anderen Menschen zu schaden. «Es tut ihnen leid und sie verstehen, wenn Menschen verärgert sind. Sie machen es aber trotzdem, weil sie überzeugt sind, nur durch diese Polarisierung entsprechenden Druck machen zu können.» Für sie sei es nicht kontraproduktiv, Menschen gegen sich aufzubringen, sondern Teil ihrer Strategie. «Sie wissen sogar, dass solche Aktionen keine politischen Mehrheiten schaffen. Das ist Mittel zum Zweck», erklärt Bluwstein.

Im Fokus stehe für Renovate Switzerland und ihre internationalen Partnerorganisationen die Aufmerksamkeit der Medien. Aber muss man sich auf die Strasse kleben, um diese zu erhalten? «Aktivistinnen und Aktivisten spüren, dass sie keine Zeit für langsame Schritte haben und wollen so erzwingen, mit der Politik auf Augenhöhe zu sprechen», erklärt Bluwstein. Dass sie dabei von der Strasse gezerrt und selbst Gewalt erleiden, würden Mitglieder der Gruppe in Kauf nehmen.

Noch mehr Klimakleber-Aktionen?

Sich mitten im alljährlichen Osterstau vor den Gotthardtunnel zu kleben, ist eine extreme Aktion. Kennen Renovate-Switzerland-Mitglieder auch Grenzen? «Eine wichtige Grenze ist sicher die Frage der Gewaltfreiheit. Für sie ist gesetzt, dass sie gewaltfrei bleiben wollen», sagt Bluwstein.

Das ist der Gruppe bisher gelungen. Muss man also damit rechnen, dass sich Renovate-Switzerland-Mitglieder noch viel häufiger auf vielbefahrene Strassen kleben? Dies sei abhängig davon, wie viele Menschen die Gruppe aktivieren könne, meint Bluwstein. «Das sieht man jetzt in Deutschland: Aktivistinnen und Aktivisten haben eine solche Masse erreicht, dass sie pausenlos irgendwo in Deutschland Aktionen durchführen können.» Dies sei in der Schweiz zwar noch nicht der Fall. Aber: «Man kann sich gut vorstellen, dass es auch hierzulande in eine solche Richtung geht.»

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veröffentlicht: 26. April 2023 10:19
aktualisiert: 26. April 2023 10:29
Quelle: BärnToday

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