Totgeburt nach Rückschaffung: Militärgericht reduziert Strafe

06.11.2018, 18:10 Uhr
· Online seit 06.11.2018, 16:39 Uhr
Auch in zweiter Instanz ist die Militärjustiz zu einem Schuldspruch gelangt: Im Fall um eine Syrerin, die bei der Rückschaffung nach Italien eine Totgeburt erlitt, hat sie einen Grenzwächter aber von den schwersten Vorwürfen freigesprochen.
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Das Militärappellationsgericht verurteilte den 58-Jährigen am Dienstagnachmittag wegen fahrlässiger sowie einfacher Körperverletzung und wegen des Nichtbefolgens von Dienstvorschriften.

Vom Vorwurf der versuchten Tötung, den der Ankläger im Rahmen der auf zwei Tage angesetzten Verhandlung erhoben hatte, sprach das Gericht den Grenzwächter frei.

In erster Instanz war der Feldweibel zudem wegen versuchten Schwangerschaftsabbruchs schuldig gesprochen worden. Dafür sah das Militärappellationsgericht aber keine Veranlassung: Denn der Beschuldigte habe aus seiner Sicht an jenem Nachmittag nicht davon ausgehen müssen, dass ein Schwangerschaftsunterbruch unmittelbar bevorstehe, sagte der vorsitzende Richter.

Wegen des Wegfalls dieses schwersten Vorwurfs reduzierte die Berufungsinstanz die Strafe deutlich: Es verhängte eine bei einer Probezeit von zwei Jahren bedingt ausgesprochene Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 150 Franken. In erster Instanz war der Grenzwächter zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 7 Monaten sowie einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt worden.

Das Schweizerische Grenzwachtkorps hatte am 4. Juli 2014 den Auftrag erhalten, eine Flüchtlingsgruppe von Vallorbe VD nach Domodossola I zurückzuführen. Den 36 Syrerinnen und Syrern, die im Nachtzug von Mailand nach Paris sassen, war zuvor an der schweizerisch-französischen Grenze von der französischen Grenzpolizei die Weiterreise untersagt worden.

Bei der Rückschaffung musste die Gruppe am Bahnhof Brig rund zweieinhalb Stunden warten, bis sie Platz in einem Zug fand. In dieser Zeit verschlechterte sich der Gesundheitszustand einer schwangeren Syrerin zusehends. Am Ende musste die von Schmerzen geplagte Syrerin gar in den Bahnwagen getragen werden.

In Domodossola brachte sie einen nicht mehr lebenden Fötus durch eine Spontangeburt zur Welt. Gemäss medizinischem Gutachten war der Fötus schon vor dem Aufenthalt in Brig tot. Deshalb erhob die Anklage - anders als vor erster Instanz - den Vorwurf der Tötung nicht mehr, sondern nur noch denjenigen der versuchten Tötung.

Er habe zunächst nicht bemerkt, dass es der Frau schlecht gehe, hatte der Feldweibel des Grenzwachtkorps vor dem Militärgericht ausgeführt. Erst als die Frau zum Zug getragen worden sei, habe er deren Notlage erkannt - und auch sogleich die italienischen Kollegen verständigt, dass eine Person im Zug medizinische Hilfe benötige.

Dies hatte dessen Verteidiger als «allenfalls bessere, aber sicher nicht schlechtere Lösung» bezeichnet: Bis im Feierabendverkehr ein Krankenwagen von Visp in Brig eingetroffen wäre, wäre mehr Zeit vergangen, als die Bahnreise in Anspruch genommen habe. Anders als seinem Mandant vorgeworfen werde, habe dieser «nicht nichts getan».

Der Auditor, der militärische Ankläger, hatte hingegen in seinem Plädoyer festgehalten, dass der Grenzwächter als «Chef auf dem Platz» für die Syrerin verantwortlich gewesen sei und umgehend medizinische Hilfe hätte anfordern sollen. Dass er nicht einmal gefragt habe, wie es der Frau gehe, sei unverständlich.

Das Militärappellationsgericht, das in den Räumen des Zürcher Obergerichts tagte, sah es ebenfalls so: Der Grenzwächter habe sich nicht im erforderlichen Umfang bei der Schwangeren oder deren Umfeld erkundigt, was los sei, sagte der Richter. Diese Passivität habe dazu geführt, dass sich deren Schmerzen verschlimmert hätten.

Auch das Telefon nach Italien sei «keine geeignete Massnahme» gewesen, hielt der Richter in seiner Urteilsbegründung weiter fest. Der Grenzwächter habe die schwangere Frau so «in den dunklen Tunnel nach Domodossola» und «ins Ungewisse» geschickt. Er hätte vielmehr so schnell als möglich eine professionelle medizinische Einschätzung einholen und deshalb einen Arzt aufbieten müssen, befand der Richter.

Als Grund für die Passivität sah das Gericht keine rassistischen Motive vorliegen, sondern es führte diese einfach auf Gewohnheit und Routine zurück. Es gebe Jobs, in denen man 99 Mal hintereinander angelogen werde, sagte der Richter.

Dennoch müsse man auch an den 100. Fall mit der selben Sorgfalt herangehen wie an den ersten. «Das ist eine grosse Herausforderung, der man sich täglich stellen muss.» Dieser Herausforderung sei der beschuldigte Grenzwächter am 4. Juli 2014 zu wenig nachgekommen.

Das Urteil des Militärappellationsgericht ist noch nicht rechtskräftig. Es kann noch Beschwerde ans Militärkassationsgerichts erhoben werden.

veröffentlicht: 6. November 2018 16:39
aktualisiert: 6. November 2018 18:10
Quelle: SDA

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