«Hörschatz»

Was ich dir noch sagen will: Sterbende Eltern hinterlassen ihre Stimme

07.04.2021, 11:20 Uhr
· Online seit 07.04.2021, 05:38 Uhr
Der Verein «Hörschatz» ermöglicht sterbenden Eltern, ihren Kindern eine einzigartige Erinnerung zu hinterlassen. Ein Geschenk in Form einer Audiobiografie – damit die Stimme ewig bleibt.
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«Mein Leben mit euch – es war schön.» Mit diesen Worten beginnt der «Hörschatz» von Wanda. Die 42-jährige Mutter von zwei Kindern starb im Dezember 2020 an Magenkrebs. Zuvor wandte sie sich an den Verein «Hörschatz», der mit einer sehr persönlichen Audiobiografie sterbenden Eltern die Möglichkeit gibt, ihren minderjährigen Kindern eine Erinnerung für die Ewigkeit zu hinterlassen.

Eine Erinnerung an unser gemeinsames Leben

In eigenen Worten erzählen Palliativ-Patientinnen und Patienten ihren Familien, was ihnen wichtig ist und was von ihnen bleiben soll. Wanda hatte bei den Aufnahmen für ihren «Hörschatz» bereits Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Sie wollte ihren Kindern, 10 und 12 Jahre alt, auch über ihren eigenen Tod hinaus etwas mit auf den Lebensweg geben. «Meine Stimme soll nicht in Vergessenheit geraten, wenn ich nicht mehr da bin», sagte sie zum Verein «Hörschatz». «Dieses Projekt war für mich insofern sehr wichtig, da ich meinen Kindern und meinem Mann eine persönliche Erinnerung an mein Leben und an unser gemeinsames Leben schenken wollte. Wichtig waren mir auch meine Liebes- und Lebensbotschaften an meine Kinder.»

«Ein absolutes Herzensprojekt»

Gegründet wurde der Verein «Hörschatz» von Franziska von Grünigen und Gabriela Meissner. Die beiden stiessen 2019 unabhängig voneinander auf das deutsche Vorbild «Familienhörbuch». Social Media sorgte dafür, dass die Schweizer Journalistinnen zusammenfanden. «Es ist unser absolutes Herzensprojekt. Wir investieren enorm viel Zeit, Kraft und Herzblut in den Aufbau», sagt Gabriela Meissner. «Das besonders Schöne daran ist: Hörschatz berührt so viele Menschen, dass wir auch sehr viel Unterstützung erhalten und uns mit dieser Hilfe weiterentwickeln können.»

Aufnahmen auch im Spital

Manchmal dauern die Aufnahmen eines «Hörschatzes» wenige Stunden – manchmal bis zu drei Tage. «Wir richten uns hier nach den Kräften der Mamis und Papis, die für ihre Kinder etwas festhalten wollen», sagt Franziska von Grünigen. «Wir treffen uns für die Aufnahmen an einem Ort, der für die betroffenen Eltern am besten passt: Bei ihnen zu Hause oder an einem neutralen Ort. Je nach Gesundheitszustand kommen wir auch ins Spital oder ins Hospiz. Wir sind mit leichtem Aufnahme-Gepäck unterwegs und deshalb sehr flexibel.»

Ein Mitfühlen – kein Mitleiden

Bisher konnte der noch junge Verein schon drei «Hörschätze» umsetzen. Für die beiden Journalistinnen ist es jeweils eine emotionale Herausforderung. «Es berührt immer sehr, auch bei mir kommen da manchmal die Tränen», sagt Meissner. «Gerade durch diese Dringlichkeit der Situation wird das Erzählte mit so viel Liebe angereichert, das geht tief ins Herz. Es ist ein starkes Mitfühlen, aber kein Mitleiden. Das ist wichtig, damit wir die Situation gedanklich auch wieder verlassen können.» Auch von Grünigen erklärt: «Kummer und Freude ist bei den Aufnahmen oft nur ein Wimpernschlag voneinander entfernt.»

Ein Stück Leben abschliessen

Bei den Treffen und Aufnahmen mit den Betroffenen könne auch eine grosse Verbindung wachsen. «Die Teilnehmenden vertrauen mir in diesen vielen Stunden intimste Details aus ihrem Leben an», sagt Franziska von Grünigen. «Vielleicht ist es vergleichbar mit der Beziehung, die eine Mutter während der Geburt zur Hebamme aufbaut: Während die Hebamme dabei hilft, Leben zu gebären, helfe ich dabei, ein Stück Leben abzuschliessen, indem wir es gemeinsam nochmals feiern und hochleben lassen.»

Neue Aufnahmen mit Familienvater

Gerade letztes Wochenende seien neue Aufnahmen mit einem 35-jährigen Familienvater entstanden. Er hat Magenkrebs mit Metastasen auf der Leber und hat für seine 6-jährige Tochter und seinen bald 4-jährigen Sohn einen «Hörschatz» aufgenommen. Nach den Aufnahmen sagte er: «Dass ich den Kindern so etwas hinterlassen kann, ist für mich unbeschreiblich. Das ist extremst wichtig. Ein mega schönes Gefühl. Den Kindern etwas hinterlassen zu können, gerade in meinem Fall, wo sie noch so jung sind, ist mega schön und wichtig. Ich hoffe, dass es ihnen hilft für den Trauerprozesss und die Erinnerung.»

Manchmal geschehen bei den Aufnahmen auch magische Momente, sagt Franziska von Grünigen: «Ein Vater wollte mir nur kurz das Gölä-Lied vorspielen, das bei seiner kirchlichen Trauung gesungen wurde. Bereits nach den ersten Takten war er derart versunken, dass alles andere um ihn herum ausgeblendet war. Er sang mit, strahlte, weinte. Mir schien, er konnte diesen Meilenstein in seinem Leben in unserem geschützten Rahmen nochmals durchleben. Solche Momente machen unsere Arbeit ganz besonders.»

«Was? Das habe ich alles erlebt?»

Eindrücklich sei auch, wenn die Papis und Mamis die Kapitelvorschläge bekommen, die die Journalistinnen aufgrund der Erzählungen jeweils zusammenstellen. Ein Leben in 30, 50, vielleicht 80 Kapiteln. «Was? Das habe ich alles erlebt?», komme dann oft als ungläubige Reaktion. «Die Biografie-Arbeit am Ende des Lebens richtet den Fokus weg von der Vergänglichkeit auf die Fülle des gelebten Lebens. Das wirkt für viele heilsam», sagt von Grünigen.

Finanzierung durch Spenden

Für den Verein ist es wichtig, den Betroffenen die «Hörschatz-Audiobiografie» erstmal kostenlos zu vermitteln. Der Aufwand betrage im Schnitt 80 bis 100 Stunden pro «Hörschatz», dazu kämen interne Aufwände, etwa das Erstgespräch, oder zusätzliche Abklärungen zur Krankheitssituation. «Die Finanzierung läuft zum einen über Spendeneinnahmen, unsere Fundraising-Aktivitäten bei Stiftungen und Firmen und Crowdfunding-Aktionen», erklärt Gabriela Meissner.

Ziel des Vereins sei es, allen schwerstkranken Eltern, die sich das wünschen, einen kostenlosen «Hörschatz» für ihre Kinder zu ermöglichen. Dazu seien sie auf Spenden angewiesen. «Wir freuen uns über Aktionen aller Art, die unser Hörschatz-Kässeli füllen, damit früh verwaisten Kindern die Stimme ihrer Eltern bleibt», sagt Franziska von Grünigen.

«Ich konnte mein Leben reflektieren»

Doch nicht nur für die Kinder, auch für die Sterbenden kann ein solches Projekt von grosser Bedeutung sein. So sagte zum Beispiel Wanda über ihre Aufnahmen: «Sie zeigten mir mein reichhaltiges Leben auf. Unsere abenteuerliche Reise führte zurück in die Kindheit, quer durch die Höhen und Tiefen meines Lebens. Ich konnte mein Leben reflektieren und seine Einzigartigkeit und Schönheit erkennen, was mich sehr berührte und glücklich machte.» Einen Ausschnitt aus dem knapp zehnstündigen Hörbuch findet ihr übrigens hier.

veröffentlicht: 7. April 2021 05:38
aktualisiert: 7. April 2021 11:20
Quelle: FM1Today

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