Schweiz

Zwangsheiraten sind auch im Coronasommer ein grosses Thema

13.07.2020, 17:47 Uhr
· Online seit 13.07.2020, 16:14 Uhr
Die Schweizer Fachstelle für Zwangsheiraten schlägt Alarm: Statt einem Rückgang führt die Pandemie zu einer Zunahme von Zwangsheiraten. Betroffen sind oft junge Mädchen, die in der Schweiz aufwachsen.
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(wap) «Wir haben die Situation unterschätzt», sagt Anu Sivaganesan, Präsidentin der Fachstelle Zwangsheirat, die auch ein Kompetenzzentrum des Bundes ist. Anfänglich habe sie gedacht, dass die Pandemie wegen der häufigen Reisebeschränkungen kurzfristig zu einem Rückgang der Zwangsheiraten führen könnte. Nun zeigt sich jedoch: Das Gegenteil ist der Fall. In der Krise haben viele Menschen offenbar versucht, ihre familiären Netzwerke zu stärken, sagt Sivaganesan. Zum Beispiel, indem sie ihre Tochter mit einem Cousin verheiraten. Aktuell erhalte die Beratungsstelle jedenfalls bis 14 Meldungen pro Woche. 2019 waren es insgesamt 347 Fälle, 123 davon betrafen Minderjährige.

Die Sommerferien sind üblicherweise Hochsaison für Zwangsheiraten. Oft finden diese in den Ferien in der Heimat statt. Auch die Bildungsdirektion des Kantons Bern warnt in einem aktuellen Newsletter, Zwangsheirat sei trotz Covid-19 auch in diesem Jahr ein wichtiges Thema. Wenngleich Heiratsverschleppungen diesen Sommer bisher rückläufig seien, so hätten Familien dennoch die Zeit des Lockdowns genutzt, um Heiratspläne zu schmieden, schreibt der Kanton Bern.

Das sieht auch die Fachstelle Zwangsheirat so: Die heutigen technischen Möglichkeiten liessen es zu, Verlobungen per Videokonferenz abzuschliessen. Sobald das Reisen wieder einfacher werde, würden die innerfamiliären Vereinbarungen dann in die Tat umgesetzt: «Wenn die Reiseerleichterungen kommen, brechen die Dämme», befürchtet Anu Sivaganesan. Betroffenen empfiehlt die Juristin, sich bei einer Beratungsstelle zu melden. Die Fachstelle Zwangsheirat biete rund um die Uhr persönliche Beratungen an. Ausserdem könnten die jungen Menschen dort eine eidesstattliche Erklärung abgeben, dass sie nicht heiraten wollen. Diese könne später juristisch wertvoll werden.

Der Druck kommt oft von den Müttern

Manchmal würden die Jugendlichen unter einem Vorwand ins Ausland gelockt. So heisse es etwa, die Grossmutter liege im Sterben und wolle die Enkelin noch einmal sehen. Oder die Teenager werden zu einer Hochzeit eingeladen – um dort festzustellen, dass es die eigene ist. In 60 Prozent der Fälle gehe der Druck zu Heiraten von den Müttern aus. Aber auch die Geschwister seien ein wichtiger Faktor. «In traditionalistischen Familien ist es oft so, dass nur ein Kind aus der Reihe tanzt und der arrangierten Ehe nicht zustimmt», sagt Sivaganesan. Der Zwangsheirat zu widerstehen, sei jedoch schwierig: Man müsse sich gegen die eigene Familie stellen. An dem scheiterten auch die Behörden oft. Zudem seien Zwangsheiraten nur schwer zu beweisen.

Es komme aber auch vor, dass Jugendliche der arrangierten Heirat im Heimatland anfänglich zustimmten – auch, weil sie neugierig auf sexuelle Erfahrungen seien. «In religiös konservativen Familien gibt es Sexualität nur im Rahmen der Ehe», gibt Sivaganesan zu bedenken. Gerade Minderjährige stehen dann erst recht unter Einfluss und Druck der Familie. Irgendwann komme dann aber der Zeitpunkt, an dem die Familie bestimme, die Tochter solle die Ehe auf dem Migrationsamt melden, damit der Gatte in die Schweiz nachziehen kann. Erst dann merkten viele, dass sie die Ehe eigentlich nicht wollten. Viele wüssten zudem nicht, dass es auch nach der Eheschliessung in einem Drittstaat rechtliche Möglichkeiten gäbe, gegen die Zwangsheirat vorzugehen.

Die Politik übernimmt

Das Thema Zwangsheiraten beschäftigt auch die nationale Politik. In der Juni-Session hat sich der Nationalrat für ein bedingungsloses Verbot von Kinderehen ausgesprochen. Er folgte damit einer Motion seiner Rechtskommission. Die Abstimmung im Ständerat steht noch aus. Kinderehen sind in der Schweiz auch heute nicht legal, werden aber oft legalisiert, wenn die junge Braut volljährig wird.

Der Bundesrat will diese automatische Legalisierung nicht mit 18 Jahren, sondern mit 25, da er von Minderjährigen einvernehmlich geschlossene Ehen schützen will und die Betroffenen länger Zeit haben, sich doch noch gegen ihre Ehe zur Wehr zu setzen. Er hat angekündigt, noch in diesem Jahr eine entsprechende Vernehmlassungsvorlage zu erarbeiten. Für Sivaganesan ist die Entwicklung positiv: «Die Politik hat das Thema erkannt und sieht Handlungsbedarf, das ist die Hauptsache», sagt sie.

veröffentlicht: 13. Juli 2020 16:14
aktualisiert: 13. Juli 2020 17:47
Quelle: CH Media

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