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Nach Terrorangriff in Wien: «Ich erlebe die Tage wie im Nebel»

· Online seit 05.11.2020, 10:44 Uhr
Schock, Unverständnis, Wut – Österreich trauert nach dem Terrorangriff vom Montag in Wien mit mindestens vier Toten und 22 Verletzten. Ines Schaberger, St.Galler Religionspädagogin, lebte lange in Wien. Sie und Freunde vor Ort erzählen, wie sie die letzten Tage erlebt haben.
Lara Abderhalden und Ines Schaberger

«Ich war in einem Lokal in der Innenstadt, als es losging. Zwei Freunde erzählten, dass sie von draussen hereingeschickt worden seien und sich verstecken sollen, weil einer mit einer Kalaschnikow herumlaufen würde», beschreibt Christoph B. die Situation während des Terrorangriffs in Wien in der aktuellen Folge des «Gott und d'Welt»-Podcasts. Die ersten Angriffe geschahen nur einige Strassen von seinem damaligen Aufenthaltsort entfernt. «Wir sahen die Polizei in Vollmontur und die Cobra herumrennen. Wir schlossen die Fenster und Vorhänge und versteckten uns im Treppenhaus und im Keller. Dort warteten wir bis 3 Uhr morgens.» Dann durfte sich der Augenzeuge auf den Heimweg machen.

Luci J. fuhr gerade Velo, als sie 10 bis 15 Polizeiautos an sich vorbeirasen sah: «Ich stand an einer Kreuzung und hab auf dem Handy gecheckt, was los ist. Da war die Rede von einem Amoklauf und plötzlich hörte ich Schüsse. Ich habe es gar nicht wirklich realisiert und nur den Radfahrer vor mir angestarrt. Ich fuhr dann so schnell wie möglich nach Hause.»

«Kollektive Sprachlosigkeit der Menschen»

Als «ziemlich krass» beschreibt der Dominikaner Simon H., wie er den Abend erlebt hat: «Man merkte, wie sich Trauer und Angst breit machten und auch Wut. Von draussen waren nur noch Sirenen zu hören, aber trotz des Lärms lag eine bedrückende, gespenstische, angespannte Stille in der Stadt – eine Art kollektive Sprachlosigkeit der Menschen.»

Ines Schaberger, St.Galler Religionspädagogin und mitverantwortlich für den «Gott und d‹Welt»-Podcast, stammt aus Österreich und wohnte sechs Jahre in Wien. Auch sie kann die Tat kaum fassen: «Ich habe in dieser Nacht kaum geschlafen. Ich war wie in einem Schockzustand. Ich kenne die Schauplätze und habe in der Nähe gewohnt. Schnell habe ich erfahren, dass alle meine Freunde und Bekannte in Sicherheit sind und war sehr erleichtert. Dennoch erlebe ich die Tage wie im Nebel.» Ganz Wien sei traumatisiert.

«Wie wird darauf reagiert?»

Anfänglich sei die Unsicherheit vor allem aufgrund fehlender Informationen über mögliche Komplizen gross gewesen. Die Leute wussten nicht, ob noch mehr Terroristen unterwegs waren. Die Polizei erschoss einen Täter. Als klar wurde, dass es sich dabei um einen Einzeltäter handelte, der der Terrormiliz IS angehört haben soll, seien neue Fragen aufgekommen, sagt Ines› Bruder Georg Schaberger, der in Wien lebt: «Wie wird darauf reagiert? Ich habe schon oft erlebt, dass nach einem solchen Angriff sehr populistisch auf den Islam reagiert wird, nach dem Motto: Alle Muslime sind Terroristen.»

Solche Reaktionen habe es auch gegeben, aber auch andere, wie die von Bundeskanzler Sebastian Kurz, der sagte: «Es muss uns bewusst sein, dass es keine Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen, zwischen Österreichern und Migranten ist, sondern den vielen Menschen, die an den Frieden glauben und jenen wenigen, die sich den Krieg wünschen. Es ist ein Krieg zwischen Zivilisation und Barbarei.»

«Wir müssen Terrorismus ernst nehmen»

Ines Schaberger hofft, dass sich die Österreicherinnen und Österreicher bewusst für die Solidarität entscheiden. «Was Terroristen wollen, ist die Spaltung der Gesellschaft, Hass schüren und Menschen auseinander treiben. Wir müssen den Terrorismus ernst nehmen und dagegen vorgehen, dürfen uns aber unsere Wiener Lebensweise mit den Schanigärten, der Kulturszene und der Kaffeehauskultur nicht nehmen lassen. Das wünsche ich mir.»

veröffentlicht: 5. November 2020 10:44
aktualisiert: 5. November 2020 10:44
Quelle: FM1Today